Rainer Kolbe Das Kind

 

265 Mann entwickelt sich

Es war davon die Rede, dass gerade nichts passiert. Außer, dass es regnet. Weihnachten ist vorbei, die ersten Ostereier wurden bereits im Supermarkt gesichtet, der also vorerst von uns boykottiert wird. Das große Kind geht in die Schule, das kleine Kind geht in den Kindergarten, die Pastorin bereitet eine Kirchenvorstandssitzung vor und ich frage mich: Wieso ist schon wieder Redaktionsschluss, der war doch gerade erst?

Wie viele Eltern sammle ich die gelungensten Aussprüche meiner Kinder und kleine Anekdoten. Und manchmal formt sich daraus eine Idee Beitrag für diese Kolumne. Doch beim Blättern in den Anekdoten stelle ich nur fest, wie groß mein großes Kind schon ist und wie viel Zeit vergangen ist: Neun Jahre alt ist es gerade geworden. Und das kleine Kind ist jetzt so alt wie das große Kind war, als ich Folge eins für diese Seite schrieb. Kinder, wie die Zeit vergeht!

Sinnend blicke ich aus dem Fenster, aber dort regnet es nur. Über den Regen habe ich letzten Woche schon geschrieben. Ich greife nach meinen Aufzeichnungen, vielleicht finde ich darin eine zündende Idee?

Viele Notizen sind nur noch Erinnerung und längst nicht mehr brauchbar für diese Kolumne. So wie ‒ beispielsweise ‒ das Thema „Mutter-Kind-Turnen“, das ja in dieser Kolumne im Laufe der Jahre ausführlich erörtert worden ist einschließlich gängiger Gegenmaßnahmen, die engagierte Väter ergreifen gegen solcherlei Verunglimpfung: Parkplätze für „Frau+Kind“, das „Mutter-Kind-Becken“ im Schwimmbad, Wickeltische allein auf Damentoiletten.

Heute bin ich natürlich ganz locker. So toll emannzipiert bin ich mittlerweile, dass mich das nicht mehr kränkt, ja, nichts mehr angeht! Kunststück: Ich brauche keine Wickeltische mehr, um meinen Kinder Fürsorge angedeihen zu lassen, denn die tragen keine Windeln mehr. Und parken kann ich, wo ich will, denn die Kinder haben gesunde Beine mit gesunden Füßen dran und können laufen.

Beim Weiterblättern in meinen Notizen und Aufzeichnungen stoße ich aber auf eine Anekdote, die ist so gut, die muss ich Ihnen erzählen!

Es war in der großen Stadt. Ich schob einen Kinderwagen vor mir her mit einem entzückenden, wachen kleinen Kind, das mit blanken Äuglein in die Welt sah. Und ich war ein stolzer Vater. Da tritt ein gebrechlich’ Mütterchen an den Wagen und beugt sich über das Kind. Ich verharre geduldig in Erwartung des üblichen „Duzi-duzi“. Und traue meine Ohren nicht: „Ach, die Mama ist weit weg?! Und jetzt musst du mit Papa vorlieb nehmen?!“ Ich erstarre, konsterniert. Und bevor ich auch nur wieder Luft bekomme, geht das Mütterchen kopfschüttelnd seines Weges.

Vorlieb nehmen. Papa als zweite Wahl. Die besten Antworten fallen einem ja leider immer zu spät ein: „Ja, das muss die Kleine und ihre vier Geschwister, seit die Mutter mit ihrem Liebhaber durchgebrannt ist.“ Oder: „Nö, ich bin gar nicht der Vater, ich hab das hier gefunden, dahinten im Park.“

Da ich keine Kinder mehr habe, die sich in Kinderwagen zwängen ließen, werde ich die Repliken nicht mehr brauchen. Aber vielleicht nützen sie einem anderen, schlagfertigerem Vater?!

Und damit sind die Themen „Emanzipation mit Kinderwagen“ und „Mutter-Kind-Turnen“ endgültig erledigt. Es ist alles gesagt.

Dachte ich. Doch am letzten Sonnabend war ich in der grauen Stadt am grauen Meer. Die Stadt war voll, alle waren unterwegs, Weihnachtsgeschenke tauschen. Kein legaler Parkplatz weit und breit. Also doch ins Parkhaus. Der Wagen duckt sich und rollt ins Halbdunkle, ich fahre ein bisschen hierhin und dahin und suche einen Platz ‒ und traute meinen Augen kaum: „Vater + Kind“.

Dass ich das noch erleben darf! Allein für dieses Schild hat es sich gelohnt! Und schon ist’s vorbei mit der männlichen Emanzipation: Wehe, ich erwische eine Mutter, die ihr Auto hier parkt!!

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