Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge sechsundzwanzig
Der Gottesdienst - Teil III

Sie lasen in den letzten beiden Ausgaben, wie Vorspeise und Hauptgang munden, wenn Sie mit einer ganz normalen Vierjährigen einen ganz normalen Gottesdienst besuchen. Heute folgt die Nachspeise.

Aufbruch: Der Gottesdienst ist zu Ende. Jetzt – und eigentlich auch erst jetzt – wird Ihre ganze Aufmerksamkeit benötig. Denn das Kind hat seine Lieblingsfreundin entdeckt, der bekannte Schlachtruf ertönt: „Da ist ja auch Lotta!! LOTTAAAA!!“ Und weg ist die Kleine. In diesem Moment zupft ein Ömchen an Ihrem Ärmel, um Ihnen mitzuteilen, was für ein reizendes und ruhiges Geschöpfchen Ihre Kleine sei. Leider – so Ihr Gedanke – ist nicht jedes Ömchen so reizend und ruhig, das Duziduzi aus der Bank hinter Ihnen klingt noch nach. Während Sie ganz freundlich antworten, müssen Sie gleichzeitig überlegen, ob das Kind wohl gerade ohne Jacke draußen im Regen mit Lotta über den Friedhof tobt, und noch gleichzeitiger hören Sie jemandem im Vorbeigehen murmeln, „also früher hat es das nicht gegeben, kleine Kinder im Gottesdienst“. Aber vielleicht haben Sie sich auch verhört. Bestimmt haben Sie sich verhört.

Aufräumen: Dann sammeln Sie ein. Ihre Jacke und Mütze, des Kindes Jacke und Mütze, eine einzelne Socke, von der Sie nicht ganz sicher wissen, ob sie wirklich Ihrem Kind gehört, das Stoffpferd und die Puppe, die kleinen Zügel des Pferdes, das Spielfläschchen der Puppe, die Überraschungseifigur, das rote Playmobilmännchen mit dem Playmobilstaubsauger, die drei Pixi-Bücher. Und da Sie ja vier Hände haben, können Sie auch noch die beiden Liederbücher nach vorne tragen. Jetzt müssen Sie nur noch Ihr Kind wiederfinden.

Am selben Nachmittag: Die Kirche ist geöffnet, was für ein Glück! So können Sie ganz unauffällig hinein und die sakralen Kunstwerke bewundern. Wenn die anderen Bewunderer die Kirche verlassen haben, entnehmen Sie der mitgebrachten Kunststofftüte ein feuchtes Schwämmchen. Versuchen Sie, die nicht ganz so sakralen Kunstwerke Ihres Sprösslings von der Kirchenbank zu entfernen. Beim nächsten Mal vor dem Kirchgang alle Filzstifte aus den Taschen des Kindes entfernen!

Am folgenden Dienstag: Sie haben herausgefunden, ob der Pastor eher Blumen mag oder eher Pralinés. Entsprechendes erwerben und durch Boten zustellen lassen – als Entschädigung für den Krach herabstürzender Gesangbücher und das Dauergeplauder während des Gottesdienstes. Sie werden in jedem Fall Ihr Gewissen erleichtert haben.

Einige Tage später: Wenn Ihre Gemeinde online ist, lesen Sie die Predigt im Internet nach, damit Sie erfahren, ob Jesus sich wirklich mit Jürgen, dem Fleischermeister getroffen hat, oder worum es sonst ging. Ist die Predigt nicht online verfügbar (warum nicht?), dann bitten Sie den Pastor um eine Kopie. Den haben Sie ja schon mit Pralinés weich geklopft. Und er wird Ihnen und Ihrem Kind unbedingt den nächsten Familiengottesdienst empfehlen ...

Eine Woche später. Wenn Sie richtig tapfer sind, gehen Sie wieder in den normalen Gottesdienst. Klar, mit Kind. Denn Sie wissen ja jetzt, worauf zu achten ist. Bei wöchentlichem Kirchgang überschneidet sich zwar die Nachbereitungen des einen mit der Vorbereitungen des nächsten Gottesdienstes, aber mit ein wenig Übung wird alles klappen. Ja, das denken Sie ...

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