Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge siebenundzwanzig
Ernte im Frühling

Der Frühling ist da mit Brausen und Schellen und Wohlklang! Alles wächst und jubiliert und blüht auf und so. Heute ist Donnerstag, der 31. Mai – gefühltes Datum, beim Blick aus dem weit offenen Fenster.

Zwischen meinem Schreibtisch, an dem diese Zeilen geschrieben werden, und Ihrem Frühstückstisch, an dem diese Zeilen gelesen werden, klafft aber ohnehin eine Lücke von ein paar Tagen – und wahrscheinlich zerschlug in diesen paar Tagen ein Wetterwechsel alle Frühlingsgefühle und stürzte uns in tiefste Depression. Ein kleiner Regensturm hat allen Blumen das frische Köpfchen abgerissen, und tropfnass hocken die Sperlinge auf dem Balken unter der Regenrinne. Die Zeitverschiebung, das Kernproblem jedes Kolumnisten und jeder Kolumnenleserin.

Letzte Woche aber war es noch so: Der Frühling ist da mit Brausen und Schellen und Wohlklang! Und die schönsten und unschuldigsten Frühlingsboten sind: Die Gänseblümchen!

Gänseblümchen sind eine ganz feine Sache. Sie sind schön, schlicht, zahlreich und fröhlich. Irgendwie so wie wir Christen, oder? Gottgefällig und kindgefällig. Und sie sind auch stabil! Irgendwie so wie wir Christen... Bei den Gänseblümchen aber ist das so: Vormittags kommt der Küster mit dem Aufsitzmäher und rasiert den Gemeindegarten, und abends sind sie alle wieder da. Tausende. Ein wunderschöner Anblick.

Ein wunderschöner Anblick vor allem für eine Vierjährige. „Papa, ich pflück’ dir eine Blume!“ Und schon ziehen Kind und Hund gemeinsam los, einer schnuppert hier, einer wedelt dort, einer sammelt Blumen, einer sammelt Zecken – denn der Winter war mild, und alle Blumen und alles Geziefer hat den abwesenden Frost gut überstanden. Ich muss scharf aufpassen, dass nicht der Hund in Nachbarsgarten allzu viele Blümchen abweidet und das Kind nicht allzu viele Zecken aus dem Unterholz.

Was mit Zecken zu tun ist, das weiß ich, aber was mach’ ich mit Blumen? In eine kleine Vase, danke, das ist eine gute Idee! Allerdings sind bereits sämtliche Väschen, Schnapsgläser, Eierbecher und Vogeltrinkschälchen mit Gänseblümchen überbelegt, so dass die weiteren jetzt nur noch auf Tischen und Gesimsen liegen. Abends muss ich dann ein paar Dutzend schon etwas angetrocknete Blumenleichen unauffällig beiseite schaffen.

All das ist, wie gesagt, schön und lieblich. Etwas anstrengend wird es dann, wenn der Ruf „Papa, ich pflück’ dir eine Blume!“ auf halbem Wege Richtung Bushaltestelle erklingt. Da heißt es geschickt argumentieren, dass die Zeit, ohnehin knapp bemessen, nicht noch weiter gedehnt werden muss. Der Kindergartenbus fährt nur einmal am Tag.

Jedoch, die kindliche Leidenschaft für das Pflücken von Blumen hat neben dem schönen Anblick der Leichen in Eierbechern und auf Gesimsen einen weiteren Vorteil: Das Kind kann praktisch nicht verloren gehen. Aus dem Garten heraus zieht sich eine breite Spur abgeernteten Grases quer über die Wiese beim kleinen Parkplatz und die halbe Friedhofswarft hinauf zur Kirche. Links und rechts dieses Weges stehen Gänseblümchen, in der Mitte stehen keine. Diese Spur markiert der Tochter Weg und Ernte. Sogar den Zeitpunkt, an dem hier geerntet wurde, lässt sich mit ein bisschen Übung anhand der nachwachsenden Blümchen bis auf eine halbe Stunde genau bestimmen.

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