Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge zweiunddreißig
Radtortour

Kinder haben die Gabe, weinend zusammenzubrechen, weil sie sich ums Haar den Fuß an einem Stein gestoßen haben – das hätte weh tun können, und außerdem hätten die neuen Gummistiefel dabei Kratzer bekommen können! Wenige Sekunden später, nachdem man sie getröstet oder ignoriert hat, knallen sie aus vollem Lauf mit der Nase voran auf die Gehwegplatten, streifen dabei mit der linken Wange den Stacheldraht eines Zaunes, schürfen sich das rechte Knie auf – und erheben sich aus dem Staube, ohne ihren Redefluss für einige Sekunden zu unterbrechen. Versteh’ einer die Welt.

Ein schönes Beispiel für die Stehaufmädchenqualitäten unseres Kindes bekamen wir mit dem Besuch von lieben Freunden. Der Herr hat sie nach und nach mit drei Kindern gesegnet, und die älteste der drei, nur sieben Monate älter als unser Kind, ist ganz besonders gesegnet: sie hat nämlich schon ein Fahrrad. Und dieser Segen wurde nun aus dem Auto gehoben, der Segen wurde elegant erklettert, los ging’s – und unser Kind stand abseits mit offenem Mund. Dann passierte einige Sekunden lang gar nichts, kein Laut war zu hören, und in die Stille hinein erklangen die ultimativen Worte: „Ich auch!!“

Mit einiger Überredungskunst brachten wir die stolze Besitzerin dazu, vom Rad zu steigen und unserem Kind das gute Stück für einige Sekunden zu leihen. Viel mehr Sekunden waren es nicht, denn dann war unsere Kleine hingekracht. Jetzt kamen die Stehaufmädchenqualitäten zum Tragen, der nächste Versuch war vier Sekunden und zwei Meter länger, der dritte Versuch schon fast virtuos. Nach einigen weiteren Versuchen und Sekunden und Metern war klar: Unser Kind wird das Rad nur dann zurückgeben, wenn wir ihr hoch und heilig versprechen, auch ihr umgehend ein Rad zu besorgen. Und also geschah es.

Nun radelt unsere Kleine also auf eigenen Rädern, gänzlich virtuos. Und es gibt kaum etwas Schöneres als ein fröhliches Kind, das laut singend einen Weg entlang radelt, Blumen am Rand, singende Vögel in den Zweigen, die Sonne lacht darüber. Fast spürt man Gott milde lächeln dabei. Oder – je nach Liedgut des Kindes – auch lauthals lachen.

Dann aber wird das Kind schneller, der Weg ist etwas abschüssig, schon klingt der Gesang etwas gepresst, da kommt die alte Steinmauer, an der der Weg eine enge Kurve macht – ja, und dann hat es wieder gekracht, aus voller Fahrt mit der Nase voran auf die Gehwegplatten, mit der Wange die Mauer gestreift, das Knie aufgeschürft. Aber schon steigt das Kind wieder auf und hat seinen Gesang noch nicht einmal unterbrochen. Der Herr lacht.

Für einen besorgten Vater aber ist jede Radtour eine Radtortour, erblassend sieht er das Tempo, das sein Stöpselchen schon schafft, grausend sieht er alle Hindernisse – fast mag er gar nicht hinsehen. Aber er muss, denn er ist der Vater! Allein der täglich dargebrachte Nachweis der Stehaufmädchenqualitäten lassen ihn lässig werden und virtuos auf seine Weise.

Was aber wirklich anstrengend ist: Ich darf nicht schneller sein als das Kind! Wehe, ich überhole mal. Und so habe ich beim gemeinsamen Radfahren mitunter große Mühe, mit dem Kind Schritt zu halten. Im wörtlichen Sinne, denn ich schiebe mein Rad, damit ich das Kind nicht aus Versehen überhole. Das gäbe bittere Tränen: „Ich will aber Erster sein!!“

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