Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge dreiunddreißig
Die Gebote. Teil drei: Du sollst nicht begehren...

Heute ein weiterer Teil der Serie über die Unvereinbarkeit der zehn Gebote mit dem modernen Familienleben. Und weil es sich anbietet, wollen wir gleich zwei davon in eins abhandeln, nämlich das neunte und zehnte. Falls Sie sich gerade nicht so erinnern: „Finger weg vom Haus des Anderen“ und „Finger weg vom Weib des Anderen und was ihm sonst noch gehört.“ Eigentlich ja klar.

Fragen wir Altmeister Luther, was er uns dazu sagen mag. Bibel: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.“ Martin: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten nicht mit List nach seinem Hause trachten.“

Nun wohnen wir zwar neidfrei in einem schönen Pastorat, das Kind aber begehrt. Neulich Abend, es knackt im Gebälk, „Papa, was knackt da??“, „Nun, das ist ein altes Haus, da knackt es schon mal!!“, „Papa, ziehen wir dann bald wieder um?? Ich will nicht in einem alten Haus wohnen!!“ Und nach einigem Nachdenken: „Können wir nicht einfach das Haus da drüben nehmen??“

Und weiter, Bibel: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist.“ Martin: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten nicht seine Frau, Gehilfen oder Vieh ausspannen, sondern dieselben anhalten, dass sie tun, was sie schuldig sind.“

Bei Gott, was soll ich mit Kühen? Das Weib hingegen, nun ja, was heißt schon begehren?! Also begehren im Sinne von... Natürlich nicht! Ganz und gar nicht! Merken Sie eigentlich, wie neugierig Sie sind? Haben Sie ernsthaft gedacht, dass ich Ihnen hier jetzt erzähle, dass? Nee, hier ist vom Kind die Rede, nicht von mir. Und das Kind begehrt des Nächsten Weib nicht.

Das Kind begehrt allerdings des Nächsten Magd. Denn die aktuelle Magd des Kindes ist nicht immer so willig und tut nicht immer das, was sie schuldig ist. Zumindest nicht immer so willig, wie das Kind es möchte: „Papa, kannst du mir die Schuhe ausziehen, ich bin zu faul!!“ Ja, so weit kommt es noch. 

Ein weiteres Beispiel für die Unwilligkeit und Unzuverlässigkeit der Magd – in diesem Fall: der Mutter – lieferte des Kindes Lieblingsfreundin unlängst im Kindergarten. Da sinkt die Kleine tränenüberströmt zusammen, als sie ihr Frühstück auspackt: Ihre Mutter hat vom Frühstücksbrot die Rinde abgeschnitten! Das wird aber nur abends gemacht! Das Kindergartenfrühstücksbrot mit Rinde, das Abendbrot ohne Rinde. So ist die Regel. Ja, es gibt einfach kein gutes Personal mehr.

Zurück zum Begehren: Nichtbegehren hat im weiteren Sinne auch damit zu tun, die eigenen Wünsche etwas zurückzustellen, etwas leiser und dezenter zu sein, auch mal andere gewinnen lassen. All das sind Dinge, mit denen man einer Vierjährigen nicht kommen darf. Das Kind will die Poleposition oder gar nichts, wir sprachen letzte Woche schon davon im Zusammenhang mit dem Radfahren.

„Darf ich mal bitte vorbei?!“ ist kein seltener Satz. Treppe runter, Treppe rauf, durch die Tür, wieder zurück, in die Küche, auf den Dachboden, in den Garten, zum Bus, in die Kirche rein, aus der Kirche raus, in den Dorfpark und zum Bäcker – immer zuerst das Kind. „Darf ich mal bitte vorbei?!“ Und wehe, Papa ist schneller, dann gibt es richtig Ärger.

Aber kennen Papas denn kein Begehren? Ich will auch mal wieder Erster sein!

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