Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge fünfunddreißig
Aufräumen mit Folgen

Erinnern Sie sich an den Beißer? Er illustrierte uns die Unvereinbarkeit des Gebotes „Du sollst nicht töten“ mit dem Alltag und endete mit dem Tod des Helden im Staubsauger, Folge fünfzehn. „Papa, hast du den Beißer gesehen??“ „Nein, mein Kind, wahrscheinlich liegt er irgendwo in einer deiner Spielzeugkisten.“ Und mit schlechtem Gewissen sieht man dem Kind zu, wie es anderthalb Stunden lang sucht und dabei das Unterste zuoberst kehrt. Zualleroberst. Gottes Strafe für die väterliche Lüge liegt darin verborgen, denn wer darf nachher alles wieder aufräumen? Ich natürlich.

Vor einigen Tagen aber war es während der Mittagspause verdächtig still im Kinderzimmer. Verdächtig aus der Sicht eines Erwachsenen. Misstrauisch schleiche ich nach oben und lege das Ohr ans Holz. Leises Schaben und Scharren. Geringes Klötern und Schnaufen. Nun, so lange das Kind schnauft, geht es ihm gut. Ich schleiche wieder nach unten.

Eine halbe Stunde später kommt das Kind freudestrahlend die Treppe heruntergetappt. „Papa, ich habe aufgeräumt!!“ „Du hast was??“ „Ich habe aufgeräumt, komm, Papa, du musst gucken!!“

Das Ergebnis ist sehenswert. Das Kind hat wirklich Spielzeug in Kisten sortiert, das Heer der Stofftiere zu einer freundlichen Sitzgruppe zusammengestellt und alle Stifte im Becher versammelt. Freiwillig, ohne jede Bitte oder Ermahnung. Die Welt ist rund und gut. Ich nutze die Gelegenheit und hole den Staubsauger.

Dass die Welt auch anders kann als rund und gut, las man vor ein paar Monaten in der Zeitung. In Baden-Württemberg wurden zwei Kinder – vier und sieben Jahre alt – von ihren Eltern im Wald ausgesetzt, weil sie ihr Zimmer nicht aufgeräumt hatten. Ein Spaziergänger fand sie, frierend und verängstigt. Die Polizei brachte die Kinder zu den Eltern zurück und teilte mit, die Eltern hätten nicht geplant, die Kinder dauerhaft auszusetzen, ja, es handele sich um eine „einigermaßen intakte“ Familie. Wie beruhigend!

Vor einigen Wochen hat ein Paar aus Schleswig-Holstein seine neunjährige Tochter gleich ganz vergessen. Das Paar heiratete im schönen Sønderborg und fuhr dann mit der Hochzeitsgesellschaft in einigen Autos heim. Schon kurz hinter Schleswig – also nach zwei Stunden Fahrt ungefähr – blickte die Braut mal hinter sich und fand den Sitz leer. Ja, dem Kind ging es gut, in Dänemark gibt es ja auch keinen Wald. Wahrscheinlich hat die Lütte ohne Ende Pølser und Spise-Is von der Polizei spendiert bekommen.

Dass die Zeitung die Geschichte mit voller Namensnennung und einem vierspaltigen Bild von Mutter und Tochter brachte, noch dazu auf der dritten Seite, das ist schon schlimm genug. Schlimmer ist, dass im ganzen Artikel nicht einmal gefragt wird, wie Menschen gestrickt sind, die ihr Kind mal für ein paar Stunden vergessen und eine Reise machen, ohne sich zu fragen: Wo isse eigentlich?

Wahrscheinlich ist auch das eine „einigermaßen intakte“ Familie. Möchte man noch wissen, wie es in den nicht intakten Familien aussieht? Die Welt ist voller Schrecklichkeiten, auch und gerade für Kinder. Krieg und Vertreibung und Missbrauch und Prügel. Das alles ist offensichtlich. Das Nicht-offensichtliche in unserer Gesellschaft schreckt mitunter mehr: Wenn ein Kind in der Fremde einfach ein bisschen vergessen wird.

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