Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge sechsunddreißig
Abenteuerturnen

„Papa!! Ich komm’ nicht wieder runter!!“ Da sitzt das Kind auf halber Höhe im Baum, traut sich nicht weiter und kommt auch nicht zurück. Ein Schuh ist heruntergefallen, ein für den Abstieg nicht unwesentlicher Ast abgebrochen. Was für eine großartige Gelegenheit für den Vater, einige dringende Dinge zu erledigen, die er sonst nicht erledigen kann, weil das Kind immer dazwischen kommt. Einige Anrufe ohne Störung. In Ruhe einen Kolumnenbeitrag schreiben.

„Papa!!“ „Ja-ha, ich komme glei-heich!“ Jetzt also erst mal Kaffee kochen, das Telefon suchen und die Zigarillos.

Man kennt das von Katzen, und dann kommt die Freiwillige Feuerwehr und klaubt das Vieh wieder vom Baum. Das macht die Feuerwehr gerne. In meinen früheren Tagen hatte ich mal einen zahmen Nymphensittich, der ein wenig entwichen war aus dem Fenster und der von der Feuerwehr wieder in seinen Käfig eingetütet werden musste. Die fanden das komisch: Die Feuerwehr holt mit der Leiter einen Vogel aus dem Baum.

Jetzt aber nicht Sittich, nicht Katze, sondern Kind. Für das Kind bin ich zuständig, nicht die Feuerwehr. Allerdings habe ich Höhenangst.

Kinder wollen hoch hinaus und nehmen das mitunter recht wörtlich. „Papa, hilf mir auf den Baum!!“ Die ersten Male ist das ganz niedlich, wie die Lütte sich in der Höhe von fünfzig Zentimeter über Normalnull an einen Ast klammert und zittert vor Höhenangst. Beim nächsten Mal zittert sie allerdings schon nicht mehr, beim dritten Mal braucht sie keine Hilfe mehr. Und dann geht es noch ein Stückchen höher. Und noch ein Stückchen...

Einmal in der Woche gehen alle Kindergartenkinder zum „Abenteuerturnen“ in die Grundschule auf der anderen Straßenseite: Schulleiter und Hausmeister bauen in der Turnhalle die abenteuerlichsten Gerüste und Hängeseilkonstruktionen und Balancierirrgärten auf.

Da kommt man als sorgender Vater in die Sporthalle und will seinem Kind ein wenig zusehen beim Bewegen. Das soll ja gesund sein. Das Bewegen, nicht das Zusehen. Das Zusehen ist keineswegs gesund: Das Kind ist nämlich nicht da. Gut, dort in sechs Meter Höhe baumelt ein Kind am Gerüst, das meinem Kind recht ähnlich sieht. Aber meines kann doch nicht in sechs Meter Höhe baumeln, dafür ist es noch viel zu klein. Und wie ich etwas genauer hinsehe, sehe ich auch, dass das Kind in sechs Meter Höhe nicht nur meinem recht ähnlich sieht, sondern sogar genauso aussieht wie meines – weil es meines ist. Da wird einem schon vom Zusehen schlecht.

Doch Kinder haben den Bogen irgendwie raus und machen tatsächlich nur das, was sie können oder gerade ein wenig mehr, dass sie was Neues lernen und es dann bald können. Nicht so wie wir Erwachsene, die sich ständig mehr zutrauen als sie können, und dann stehen sie da, bis übers Dach verschuldet und unglücklich. Schon Krabbelkinder schaffen es fast immer, sich genau an der richtigen Stelle umzudrehen und eben nicht Kopf voran vom Sofa zu stürzen, sondern auf die Füße zu fallen. Wie Katzen eben. Es ist schön, dem eigenen Kind beim Stolz-Sein zuzusehen, stolz auf das eigene Zutrauen. Na, und der Vater ist natürlich auch stolz.

So. Jetzt habe ich meine Kolumne geschrieben und kann nun ganz entspannt in den Garten gehen. Ja, Sie hatten es schon wieder vergessen, da sitzt noch ein Kind im Baum.

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