Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge neununddreißig
Regen an der See

Der Abend ist lau. Das Kind und ich sitzen auf einem großen Stein, Wellen glucksen, und wir unterhalten uns über Gott und die Welt. Gott ist nah: Uralte große Steine, Wasser, Vögel in einem weiten Himmel.

Wir unterhalten uns, das meint: Das Kind redet mit mir und mit seinem Gotlandschaf und mit einer vorbeifliegenden Seeschwalbe und mit sich selbst, und ich werfe ab und an mal „Meinst du!?“ und „Hhmm!?“ und „Tatsächlich!?“ ein, damit der Redefluss ausnahmsweise mal nicht abreißt. Risse er ab, fiele dem Kind womöglich ein, dass ich ihm vorhin leichtsinnig versprochen habe, vor dem Schlafengehen noch auf den kleinen Campingplatzspielplatz zu gehen. Dort ist es aber nicht so schön wie hier am Ufer: Keine großen Steine, kein Wellenglucksen, keine Seeschwalben. Weniger Gott. Und also genieße ich den lauen Abend – „Meinst du!?“ – und gucke auf die See – „Hhmm!?“ – und bin glücklich – „Tatsächlich!?“

Dass das Kind und ich hier sitzen dürfen, ist nicht selbstverständlich. Abgesehen davon, dass viele Menschen ihren Urlaub nicht in Schweden verbringen können oder wollen: Es ist nicht selbstverständlich, weil es die meiste Zeit regnet. Eigentlich wollte ich es im Urlaub ja anders haben als zuhause. Die Wendung „unsere Tage verrinnen“ bekommt auf dieser Reise eine recht wörtliche Bedeutung.

Es gibt auch Tage mit weniger Regen. Und manchmal scheint sogar ein paar Minuten lang die Sonne. Dann sucht das Kind die Nässe, und dabei ist es sehr tapfer: Es badet in der See. Leider ist das Kind erst vier Jahre alt, und also muss der Papa mit rein: die gefühlte Wassertemperatur beträgt vierzehn Grad. Wir sind sehr tapfer. Nach gefühlten dreißig Minuten macht Papa den vorsichtigen Vorschlag, das Wasser doch vielleicht wieder ein wenig zu verlassen. Das Kind schreit mit vor Kälte vibrierenden bläulichen Lippen: „Nein!!“ Papa ist sehr tapfer und greift sich das Kind.

Wahrscheinlich stammt der Mensch tatsächlich aus dem Meer, er ist vor langer, langer Zeit den Fluten entstiegen. Und darum liebt das Kind das Meer. Das war schon so, da es gerade ein wenig laufen konnte. Als wir ihm das erste Mal Schwimmflügel verpassten, stapfte es ins Blau hinein, als besuchte es den Garten eines alten Bekannten. Und hätten wir es beim amüsierten Beobachten belassen und wären nicht doch hinterher gestapft, so wäre es wohl erst knapp nördlich von Scarborough den Fluten wieder entstiegen. Seitdem befreien wir beim Deichspaziergang den Hund von der Leine, damit er Schafe jagen kann (er will nicht baden), und dann leinen wir das Kind an, damit es nicht baden geht. Zumindest nicht zu jeder beliebigen Jahreszeit.

Vielleicht hat diese Neigung zum Wasser ja entfernt damit zu tun, dass wir in Nordfriesland wohnen? Bei einem bayrischen Kind fände ich eine solche Neigung jedenfalls eher überraschend. Und jedenfalls hat das Kind keine Sehnsucht nach Bergen. Woher auch, Berge kennt es nur aus Büchern. Aber in Büchern – das weiß das Kind schon – stehen Geschichten. Und Geschichten sind ja immer ausgedachtes Zeug!?

„So, mein Schatz, nun musst du aber schlafen gehen, es ist schon spät, und die Mücken kommen auch gleich wieder aus ihren Verstecken.“

„Ja, Papa, aber erst gehen wir auf den Spielplatz!! Du hast es versprochen!!“

Also doch weniger Gott.

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