Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge vierzig
Sehnsucht

Nun ist der Südosten Schwedens extrem dicht besiedelt. Extrem dicht für schwedische Verhältnisse: alle Augenblicke kommt keiner. Viel Wald, viel Wasser, ab und an sogar mal ein Elch. So soll es sein. Unser kleiner Urlaubsbus tuckert die Küste entlang und wir betrachten Wälder und Steine und Schären und sehen, dass es gut ist.

Irgendwann finden wir dann wieder einen Campingplatz, der uns zusagt. Der also dem Kind zusagt: Wasser und Spielplatz.

Am nächsten Morgen wird das Kind groß: Es geht alleine einkaufen. Ganz alleine. Seine kleine Hand stopft meinen großen Geldschein in seine kleine Hosentasche, es besteigt sein Rad und radelt zur Rezeption. Das ist der hochtrabende Ausdruck für die Baracke, in der man sich hier an- und abmeldet und wo es Brötchen gibt: Das Kind möchte frühstücken.

Das Kind radelt los und guckt sich noch nicht einmal um und ist bald hinter den nächsten Kurve verschwunden. Gut, bis zur Baracke ist es nicht weit. Doch wie das Kind da so ganz allein in der Fremde verschwindet – das ist schon ein merkwürdiges Gefühl.

Immerhin gibt es keine Sprachprobleme. Denn in Schweden spricht man schwedisch, und bereits am dritten Tag unserer Reise konnte das Kind auch Schwedisch. „Papa!! Ich kann Schwedisch!! Ölmöl ån olådrnjö!!“ Es klingt recht ähnlich.

Sprache will angewendet werden. Wie das Kind es macht, weiß ich nicht, aber es funktioniert. Doch die Initiative muss vom Kind ausgehen. Als eine vorübergehende freundliche Frau dem Kind ein „Hej!“ zurief, versteinerte es bis ins Mark und klammerte sich an meinem Hosenbein fest. Darf es aber selbst den ersten Schritt tun über sämtliche Sprachbarrieren hinweg, so wird der freundlichen Frau ausführlich berichtet von der Taufe im Familienkreis, vorletzte Woche, und wer von den anderen Kindern wie viele Kekse gegessen hat und dass der Hund noch viel mehr Kekse vom Beistelltischchen geklaut hat. Ob die freundliche Frau das versteht oder ob des Redeflusses lieber ein bisschen versteinert und dann zügig mit einem weiteren „Hej!“ das Weite sucht – egal. Immerhin hat sie sich nicht an meinem Hosenbein festgeklammert, die Frau.

Und immerhin kommt das Kind nach zehn Minuten mit einer Tüte Brötchen wieder, das Frühstück kann beginnen. Schade, dass es gerade wieder angefangen hat zu regnen.

Bei der zweiten Tasse Kaffee besprechen wir dann, wo wir heute hinfahren wollen – „Aber erst gehen wir auf den Spielplatz!! Vier Stunden!!“ – und was man dem Kind sonst noch so in der Fremde bieten kann. Und natürlich fragen wir auch das Kind. Doch was will das Kind? „Nutella!!“ Leider ist das Reisenutellaglas bereits leer. Neues Nutella gibt es nicht, so ist die Regel. Was will das Kind noch? „Ich hab Sehnsucht, ich will zu Oma!!“

Sehnsucht ist das neue Wort für alles, was sich im Innersten des Kindes merkwürdig anfühlt. Heimweh, Bauchweh, ich muss mal, Müdigkeit: „Ich hab  Sehnsucht!!“ Nach Oma, nach unserem Hund, nach Nutella. Und:

„Wann darf ich wieder in den Kindergarten??“ „Nächste Woche, mein Schatz.“ „Ist dann unser Urlaub zu Ende??“ „Ja, dann sind wir wieder zuhause.“ „Ich will nicht nach Hause!!“ „Hast du nicht gerade gefragt, wann du wieder in den Kindergarten darfst?“ „Ich will nicht in den Kindergarten!!“

Also fahren wir dann doch noch weiter. „Wie lange noch??“

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