Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einundvierzig
Gartenglück

„Willst du eine Stunde glücklich sein, trinke Wein; willst du einen Monat glücklich sein, heirate; willst du ein Leben lang glücklich sein, schaff dir einen Garten an.“

So las ich es kürzlich auf einem Kalenderblatt, Sie kennen doch diese Abreißkalender: Tag für Tag ein weiser Spruch und ein kleiner Scherz und ein unnachahmliches Rezept. Analysieren wir also die obige Weisheit: Eine Stunde – ein Glas Wein. Kein Problem, hier steht es neben der Tastatur. Einen Monat – heiraten. Hat auch geklappt.

Ein Leben lang – ein Garten? Natürlich wollte ich alle Zeit für alle Zeit glücklich sein, wer wollte das nicht. Folglich legte ich mir eine Theologiestudentin zu, und schon wenige Jahre später – heute – wohnen wir hier in unserem Dorf, in diesem Pastorat, mit diesem wunderschönen Pastoratsgarten.

„Nee, also wissen Sie, früher, ja, früher!“ Die Alteingesessenen trauern dem alten Pastoratsgarten nach. Ein Pastoratspark geradezu mit von Steinen eingefassten Wegen, mit einem Pavillon und sogar einem Brunnen. Die Alteingesessene vergessen dabei ein wenig, dass die Gemeinde früher einen Ganztagsküster hatte und einer der Pastoren im Erstberuf Landschaftsgärtner war. Der Brunnen schließlich war nicht Zier, sondern Notwendigkeit, Frischwasser aus der Leitung gibt es hier nämlich erst seit den sechziger Jahren.

Heute ist der Pastoratsgarten etwas wilder. Es gibt herrliches Unterholz, in dem das Kind Höhlen baut, es gibt von Schmetterlingen umgaukelte Brennnesseln, selten zu sehende Vögel laben sich an den Sämereien der Wildkräuter, ab und an steht ein Reh auf der Wiese.

Eine der Aufgaben des gärtnernden Pastors habe ich übernommen: Die Bekümmerung der Brombeeren. Ja, es gibt Brombeersträucher, und zwar nicht zu knapp. Brombeeren sind verwandt mit den Quallen und haben Tentakeln, die zügig wachsen und viele Meter lang werden, und die Berührung dieser Tentakeln kann böse Verletzungen auf der Haut nach sich ziehen. Außerdem kommt keiner mehr an die Beeren ran. Will ich also das spielende Kind vor den ausufernden Ranken schützen und mir zugleich Kompott verschaffen, muss der Verhau zunächst gelichtet werden. Dann sind wir zwei Wochen im Urlaub, es rankt fröhlich weiter, und nach dem Urlaub kann ich von vorne anfangen. Genau so verhielt es sich mit dem Gartenglück in unserem ersten Jahr an diesem unseren Ort.

Der zweite Sommer. Wieder schneide ich fleißig, die Erntezeit naht, ich halte Weckgläser bereit. Da hat meine Lieblingspastorin anderthalb Tage freie Zeit, Verwandte zu besuchen in der Stadt. So schnell ranken die Ranken ja nun auch wieder nicht. Als wir wiederkommen, sind die Brombeersträucher abgeerntet.

In unserem dritten Jahr wird für die entscheidenden Wochen ein absolutes Reiseverbot ausgesprochen. Nur zum Bäcker gehe ich noch und zum Kindergartenbus, um nur meinen Einsatz, meine Ernte nicht zu verpassen.

So bringe ich also morgens das Kind zum Bus – als ich wiederkomme, steht eine mir fremde Frau auf schwankender Leiter und erntet Brombeeren, die unteren Äste sind schon kahl. Ich hole schnell meinen Eimer und helfe der Frau, die hier im Pastoratsgarten mitnichten fremd ist. Nur ich kannte sie noch nicht und auch nicht ihr vererbtes Ersternterecht.

Das Kind mag kein Obst. Ich eigentlich auch nicht.

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