Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge dreiundvierzig
Die Diktatur der Kunst

Ich räume meinen Schreibtisch auf. Die Wörter „Ich“, „meinen“ und „Schreibtisch“ führen allerdings in die Irre. Nicht ich räume, sondern wir, und bei jedem Schnipsel, den ich dem Mülleimer überantworten will, schreit das Kind „Papa!! Das kann ich doch noch gebrauchen!!“

Auch ist es keineswegs mein Schreibtisch, sondern die Präsentationsfläche eines Museums für Gegenstände an sich, und der Schwerpunkt der aktuellen Präsentation ist abhängig davon, ob das Kind eine produktive Phase hat – „Selbstgebastelt!!“ – oder eine destruktive Phase – „Papa, kannst du das Bein noch mal ankleben??“ – oder eine akkumulierende Phase – „Papa, eine Vogelfeder, die schenk ich dir!!“ „Danke, mein Schatz, lege sie doch bitte dort zu den anderen vierzehn Federn!“

Und also sieht mein Schreibtisch – „mein Schreibtisch“ – ungefähr so aus:

Ein Tannenzapfen, eine Flöte („Die ist von Carla!!“), ein Eierbecher mit Gänseblümchenleichen, eine Kautschukgiraffe, fünf gemalte und mit viel Klebstoff angereicherte Collagen (nebenbei: wissen Sie, was ein Fünf-Liter-Kanister Klebstoff kostet!?), ein roter Stoffhummer, vierzehn, nein: fünfzehn Vogelfedern, der Schlüssel von der Barbieschatzkiste, ein kleiner glitzernder Stein von der Auffahrt, der Ausschnitt aus einem Weihnachtsdekorationskatalog (Motiv Glocke), fünf kleine bemalte, sehr klebrige Zettelchen, der Button vom Kindergartensommerfest (mit abgebrochener Nadel), ein selbstgebastelter Drache (flugunfähig), ein Päckchen für Oma und Opa, drei vertrocknete Kastanienblätter, ein Aufziehblechvogel (voll funktionsfähig) mit dazugehörigen Schlüssel (verbogen), vier sandige Muscheln und das legendäre Um-die-Ecke-Stöckchen.

Alles andere ist meins. Viel ist es nicht, ist ja auch nicht mehr viel Platz. Wenn ich am Computer arbeite, liegt die Tastatur auf zahlreichen Kinderbildern und die Maus spaziert zwischen den sandigen Muscheln.

Es ist aber zum Staunen, wie kreativ und phantasievoll Kinder sind: Das Kind malt ein kleines Dreieck in orange auf einen Fetzen Papier und schneidet das Dreieck aus, die Zunge zwischen den Zähnen. „Papa, das schenke ich dir!!“ „Oh, danke, mein Kind, ein kleines Dreieck in orange auf einem Fetzen Papier!“ „Aber Papa, das ist ein Känguru!!“ Ja, wie konnte ich das nicht sehen?

Und wenn es nur ein wenig im schräg einfallenden Sonnenlicht glitzert, dann kann noch das dreckigste Steinchen zwischen parkenden Autos aufgeklaubt werden mit dem spitzen Schrei „Papa!! Ein Edelstein!! Ein Edel!!“

Dabei unterscheidet das Kind durchaus zwischen Wahn und Wirklichkeit. Groß war die Irritation, als ich nach der dritten Aufforderung dann tatsächlich einmal einen Löffel voll vom Kuchen aus der Sandkiste verkostete: „Papa!! Nur im Spiel!! Nicht in echt!!“ Nicht in echt, aber durchaus in der Vorstellung. Ist die Vorstellung aber nicht wiederum Teil der Wirklichkeit?

„Papa!! Noch ein Edel!!“
Na bitte, sag ich doch.

Kinder sind jedoch nicht nur kreativ, sie sind auch diktatorisch. Kein Schnipsel darf entsorgt, kein noch so hingekrikeltes Bild weggeschmissen werden. Und folglich sieht nicht nur mein Schreibtisch aus wie oben beschrieben, sondern eigentlich unsere ganze Wohnung.

„Papa!! Soll ich mal schnell was basteln??“
„Wolltest du nicht gerade auf Klo gehen?“
„Ach, das schaffe ich vorher!!“

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