Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge vierundvierzig
Der Weg ins Himmelreich

Wir wühlen im Garten. Gummistiefel, alte Pullover, ich mit der Gartenschere, das Kind mit der roten Schaufel. Gerade will ich den Brombeerranken ganz ultimativ meine Meinung vermitteln, da ertönt der ultimative Ruf: „Papa, das Essen ist fertig!!“

Dem darf ich mich nicht entziehen. Erstens gibt es Ärger, wenn das Essen kalt wird, und zweitens gehört Spielen zum Glück des Kindes. Ich will keinen Ärger, ich will ein glückliches Kind. Folglich setze ich mich folgsam auf den feuchten Rand der Sandkiste, nehme milde lächelnd meinen – „noch warm!!“ – Sandkuchen in Empfang und beginne, mit viel „Mmm“ und „Ahh“ zu essen.

Spielen gehört natürlich auch zum Glück eines Erwachsenen. Auf meinem Schreibtisch steht ein kleiner Eisenbahnwaggon, „Papa, ist das Dekoration??“ Nein, das ist ein Spielzeug. Das Kind im Manne. Und wenn ich mal so richtig genervt bin, dann schiebe ich den kleinen Waggon hin und her und träume von der große, das ganze Haus durchdringenden Modelleisenbahnanlage.

Spielen ist schließlich auch noch gottgefällig. Sagte nicht das Kind des Herrn: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen!?“ Also spielen wir, denn ins Himmelreich wollen wir ja, irgendwann.

Der Weg ins Himmelreich ist aber anstrengend! Denn das Kind spielt nach anderen Regeln als der Papa, und diese Regeln sind undurchschaubar. Die Regeln, nach denen ich selbst als Kind spielte, habe ich leider vergessen, ich muss neu lernen.

Da ist zum Beispiel der Dorfspielplatz. Entweder sind keine anderen Kinder da, dann muss Papa ran. Und zwar das volle Programm. Rein gewichtsmäßig darf ich weder auf die Schaukel noch auf Wippe, aber ich muss. Alleine kann das kleine Kind nicht wippen, und bei der Schaukel will es sehen, in welch lächerlich geringer Höhe der große Papa hellgrün wird im Gesicht.

Oder es sind eben doch andere Kinder da. Sind die anderen Kinder jünger, wird angegeben, was das Zeug hält: Ich kann weiter, ich kann höher, ich bin sowieso älter als du! Sind die anderen Kinder älter, bleibt der Mund offen stehen: Die können weiter, höher, sind älter! Der wahre Sinn des Spielplatzes ist die wechselseitige Pflege sämtlicher Eitelkeiten, und nur Erwachsenen denken, er diene dem Spiel.

Richtig anstrengend wird das gemeinsame Spiel aber durch den Rollentausch. Im Alltag sagt Papa dies und das, und das Kind muss machen: Schuhe ausziehen, Hände waschen, an den Tisch setzen. „Nie nie nie darf ich spielen!!“ Beim Spielen wird getauscht: Das Kind bestimmt, und Papa muss machen.

Zurück in die Sandkiste. Das Kind hat mitbekommen: Heute geht was! Und jetzt möchte es vor lauter Begeisterung alles gleichzeitig bestimmen und alles gleichzeitig spielen. Alle dreißig Sekunden werden die Regeln geändert: „Papa, ich hab noch eine andere Idee!! Du nimmst jetzt die blaue Schaufel!!“ Ich will aber jetzt nicht die blaue Schaufel nehmen, ich habe die rote und bin sehr konzentriert aufs Graben. Keine Chance: „Papa, ich hab noch eine Idee!!“

Doch wenn ich dann die Regeln dieses Nachmittags erfasst habe und mich ganz hingebe und herumtappe auf dem Weg ins Himmelreich – und also tatsächlich ganz gedankenverloren spiele – dann staunt das Kind: „Papa spielt!!“

Leider vergisst das Kind über dem Staunen sein Spielen...

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