Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge sechsundvierzig
Ein Busfahrer wird geküsst

Das Kind klettert in den Kindergartenbus und ich steh’ da mit der Bürste in der Hand. Der Bus nimmt, der Bus gibt. Er nimmt das Kind, und mittags gibt er es wieder her. Er nimmt die Tränen, er gibt aber auch Tränen.

Ganz am Anfang unserer gemeinsamen Kindergartenkarriere fuhren wir die Kleine noch mit dem Auto hin, brachten sie in ihren Gruppenraum, verabschiedeten uns von ihr – und dann strömten die Tränen: „Wann kommst du wieder wann holst du mich ab wie lange noch ich will nach hause geh nicht weg!!“ Die Gruppenleiterin versicherte glaubhaft, dass der Tränenfluss innert sechzig Sekunden versiege, dennoch war es schmerzhaft: Jahrelang bin ich hingelaufen, wenn das Kind weint. Nun verlasse ich es, wenn es weint. Das schmerzt der Vaterherz! Andererseits hatte ich auch keine Lust, die Vormittage der folgenden dreieinhalb Jahre im Kindergarten zuzubringen.

Doch schon Anfang der dritten Woche rief die Gruppenleiterin an, das Kind wolle jetzt gerne mit dem Bus nach Hause fahren. Gerne, kein Problem: „Morgen fährst du auch mit dem Bus hin, nicht?!“ Und fortan gab es keine Tränen mehr zum Abschied, denn jetzt ist es das Kind, das mich verlässt, und es fühlt sich groß und stark.

Inzwischen ist der Bus völlig selbstverständlicher Teil des kindlichen Alltags. Nicht immer aber ist er selbstverständlicher Teil meines Alltags. Denn immer wieder gibt es Momente der, sagen wir: Irritation.

Im letzten Jahr hatte das Kind eine Küssphase. Und eines schönen Mittags kletterte es aus dem Bus, der Bus brummte weiter, „Papa, morgen küss’ ich den Busfahrer!!“ Ich schluckte hörbar. Klar, der Busfahrer ist nett und albert wohl herum mit den Kinder und ist der Kinder Held. Aber gleich küssen? Die Küssphase haben wir dem Kind dann an dieser Stelle mit einigem erzieherischen Nachdruck ausgetrieben. Ob der Busfahrer geküsst wurde oder nicht – es war nie wieder die Rede davon.

Mittags also gehe ich wieder zur Haltestelle – jetzt ohne Bürste! –, um das Kind in Empfang zu nehme. Ein knarrend-zischendes Geräusch, der Bus hält. Das Kind klettert heraus, der Bus fährt weiter. Für den weiteren Fortgang des Lebens gibt es jetzt drei Möglichkeiten: Tränen, Tränen oder Tränen.

Möglichkeit eins. „Teddy!!“ Teddy liegt im Bus, ganz hinten auf der letzten Sitzbank, und ganz hinten in der Kurve kann man ihn verschwinden sehen. Den Bus, mit Teddy. Dem Kind kommen die Tränen.

Möglichkeit zwei. „Leila hat gesagt, sie ist GAR nicht mehr meine Freundin!!“ Es ist unerheblich, dass Leila gestern ihre beste Freundin war und morgen ihre beste Freundin sein wird. Alle wissen es, selbst das Kind. Aber heute ist Leila GAR nicht mehr ihre Freundin, und das ist schlimm. Und das ist es ja wirklich! Dem Kind kommen die Tränen.

Möglichkeit drei. „Heute hat der Busfahrer wieder richtig laut gepupst!!“ Es ist nicht ganz einfach, sein Kind der Obhut fremder Personen anzuvertrauen. „Was hat der Busfahrer?“ „Gepupst!! Ganz laut!!“ Mir kommen die Tränen.

Es wird sich erst im Laufe der nächsten Tage herauskristallisieren, dass ein bestimmtes Geräusch in der Bremsanlage für die Insassen des Busses so klingen kann wie Pupsen. Da muss man erst mal drauf kommen! Na, und der Busfahrer hat Humor und erzählt den Lütten natürlich, dass er jetzt wieder pupst.

Hätt’ ich auch gemacht.

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