Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

plus > Download

 

Folge zweiundfünfzig
Ent-schleu-ni-gung

Einer der häufigsten Sätze, die Eltern zu ihren Kindern sagen, lautet ungefähr so: „Nun mach’ ma’ hinne!“ Und die Standardantwort lautet: „Ich mach’ ja schon!!“ Tja, und dann eskaliert das mal wieder.

Unser aller Alltag – so scheint es – wird bestimmt von der Uhr und von Terminen, von Eile und von Hast. Alle klagen darüber, sogar das Kind. Doch es gibt auch Gegenbewegungen, Gegenströmungen. Das Zauberwort heißt „Entschleunigung“, und das muss man schon zweimal lesen, um es zu verstehen. Und zack! ist man etwas geruhsamer geworden, allein schon durch das zweimalige Lesen: Ent-schleu-ni-gung. Sie merken, wie es wirkt. Um wie vieles mehr wirkt es mit Kind! Denn ein Kind ist die personifizierte Entschleunigung.

„Dem Streben nach Verlangsamung liegt die Auffassung zugrunde, dass die wirtschaftliche Entwicklung in den Industriegesellschaften eine Eigendynamik gewonnen habe, die Hektik und sinnlose Hast in alle Lebensbereiche hineintrage und dabei jedes natürliche und insbesondere menschliche Maß ignoriere.“ So lesen wir im Netz der Netze. „Komplexität, Effektivität, Hast, Hektik, schneller, höher, weiter, mehr – dem wird die Entschleunigung entgegengesetzt.“

Und damit der Tag nicht schon mit Hast und Hektik beginnt, wollen wir ihm gleich morgens die Entschleunigung entgegensetzen. Was also hat das Kind morgens zu tun? Sich wecken lassen, anziehen, bisschen waschen, aufs Klo gehen, Haarbürste suchen, Haarbürste nicht finden, Haarbürste finden lassen, sich kämmen lassen, frühstücken, Stofftier für den Kindergarten wählen, gewähltes Stofftier von oben holen, zwölf weitere Stofftiere am Fenster drapieren zur großen Verabschiedungsparade, Schuhe suchen, Schuhe anziehen, den Meerschweinchen ihr Frühstück bringen, Stofftier für den Kindergarten noch einmal neu wählen, neu gewähltes Stofftier von oben holen, den Hund küssen, die Mutter küssen (in der Reihenfolge), losgehen.

All das wird garniert mit einem unendlichen Strom von Fragen, Antworten, kurzen Bastelattacken, Liedern, „ich will jetzt malen!!“, Tränen, Postulaten aus der Rubrik „Deine Kindergartenbrote sind eklig!!“, verschüttetem Apfelsaft und Gelächter.

Wo ist da die Entschleunigung? Sie ist hier: Für all diese Dinge und Stofftiere und Tränen und Postulate und Küsse steht eine Dreiviertelstunde des Morgens zur Verfügung. All diese Dinge und Stofftiere und Tränen und Postulate und Küsse benötigen jedoch drei Stunden. Und da sie jeden Morgen geschafft werden, muss es sich morgens also um eine Art gedehnte Zeit handeln. Jeden Morgen haben wir drei Stunden Zeit, über zwei Stunden mehr als von uns Eltern gefühlt! Hundertfünfunddreißig Minuten mehr als die Uhr anzeigt!

Ich weiß, dass ich noch nicht reif bin für diese höheren Weihen der Entschleunigung. Ich fühle mich morgens immer noch irgendwie hetzend und gehetzt. Mir fehlt es einfach an der richtigen Wahrnehmungsfähigkeit. Aber ich arbeite daran.

Ein Trost bleibt: Das Kind kann die Uhr noch nicht lesen – und das ist gut fürs Kind. Schlimm genug für so kleine Wesen, dass sie die Auswirkungen unserer erwachsenen Hektik abbekommen und nur zu oft nicht so ihren Tag leben können, wie sie es gerne wollen. Da sollen sie nicht auch noch selbst ständig auf die Uhr schauen müssen.

zurück