Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge sechsundfünfzig
Ausgedachte Kinder

Neben den vor zwei Wochen erwähnten Viechern und Gespenstern gibt es noch mehr Lebewesen in unserem Haushalt – die ausgedachten Kinder. Einzelkindschicksal?! Normalerweise treten diese ausgedachten Kinder in Gruppen auf: Wir wollen spazieren gehen, ich öffne die Tür, mein Kind tritt in den Sonnenschein, der Hund schleppt sich schläfrig hinaus, ich will die Tür hinter uns schließen. „Papa!! Da sind doch noch die andere Kinder!! Die müssen mit!!“ Und bis die alle durch die Tür sind... – bei einigen Dutzend ausgedachten Kindern kann das dauern. Zwischenzeitlich schleppt sich der Hund wieder rein, weil er denkt, dass wir doch nicht spazieren gehen, sondern hier nur rumstehen, und da kann er die Zeit genauso gut auf seiner müffigen Lieblingsmatte liegen. Dabei trottet er ahnungs- und rücksichtslos durch drei bis vier Kinder. Was richtig Ärger geben kann mit dem echten Kind!

Und wenn dann alle ausgedachten Kinder im Sonnenschein stehen und ich den Hund von seiner müffigen Matte wieder hochgeflötet habe, dann können wir endlich losgehen. Gaaanz langsam, denn die jüngsten können nicht so schnell, denn das sind ja noch kleinste Kleinstkinder. Während meine Vierjährige ja schon ein großes Kind ist. Sagt sie. Denkt sie.

Der gewiefte Vater aber macht sich den Spielwitz des Kindes zu Nutze. Auf unserer Herbstreise konnte ich die ausgedachte Truppe nämlich gut gebrauchen.

Das Kind und ich haben eine kleine Wanderung unternommen. Im Alltag hüpft und rennt und klettert ein Kind ja ohne Ende – aber nur aus eigenem Antrieb. Bitte ich es liebevoll, doch mal eben in die Küche zu gehen und sich seinen Saft selbst zu holen: „Oh nee, das ist sooo weit, meine Beine sind müde, die können nicht mehr!!“ Und es lässt sich theatralisch auf den Teppich fallen. Dieselben müden Beine hüpfen sechzig Sekunden später zwar ausgelassen auf dem Trampolin, aber die Küche und der Saft, ja, die sind weit.

Wenn man ein Kind ernst nimmt und also so eine Wanderung zelebriert – mit kleinen Wanderschuhen und großem Proviant –, dann ist es begeistert bei der Sache. Nichts macht müde und nichts ist weit: drei Stunden durch die wilde Schlucht gestapft, über Grate geklettert, an in den Felsen eingelassen Leitern aufgestiegen und in Höhlen geforscht. Und zwischendurch den großen Proviant kleingemacht.

Das letzte Stück unseres Weges führte durch Olivenhaine und an einer Landstraße entlang und war nicht mehr ganz so spannend. Und nun waren die kleinen Beine tatsächlich etwas müde. Allerdings war auch ich ein wenig müde, die Aussicht, zwanzig Kilo Kind den Rest des Weges schleppen zu müssen, fand ich nicht so toll.

Da entsann ich mich der ausgedachten Kinder. Die waren jetzt alle dabei. Ich griff zur Luftgitarre, das Kind und alle anderen sangen aus vollem Munde. Mein Kind vorweg gab Ton und Takt und Tempo an, wir gingen langsam, denn die kleinste Kleinstkinder können ja noch nicht so schnell, ich folgte am Schluss. Nach nur einer Stunde waren wir in unserer Ferienwohnung angelangt. Ganz ohne Jammern, ganz ohne Tragen – aber voll der väterlichen Bewunderung.

Seit dem kommt es vor, dass ich in die Küche gehe, meinem Kind Saft zu holen, wenn dessen Beine wieder viiiel zu müde sind und der Weg sooo weit ist. Denn ich weiß, was die Füße einer Vierjährigen zu leisten vermögen.

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