Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge siebenundfünfzig
Vom Trösten

Sogar Menschen, die eher nicht so zu Kindern neigen, dürfte bekannt sein, dass kleine Kinder fortwährend getröstet werden müssen. Ein Sturzbach von Tränen entfleußt praktisch ohne Ende den kleinen, blanken Augen. Der liebende Vater ringt um Worte, um Erklärungen, um Tröstungen: „Leila hat gesagt, sie ist GAR nicht mehr meine Freundin!!“ Teddy ist weg, wieder. „Opa ist vor meiner Geburt gestorben!!“ Eine Blume, vom Sturm geknickt.

Ganz beliebt bei allen Beteiligten ist auch der schluchzende Ausruf „Mama bringt mich NIE ins Bett!!“ und der nachfolgende Sturzbach. Nein, wir können nicht wirklich jede Trauer komplett ernst nehmen, wir schaffen es nicht, wir sind fehlbar. 

Anstrengend ist’s und noch anstrengender sind die schnellen Wechsel. Als liebender Vater bin ich nun mal so gepolt, dass ich auf Tränen mit schnellem Lauf reagiere, hin zum Kind und es trösten um annähernd jeden Preis. Das ist irgendwie so drin in mir. Kleine Kinder können jedoch in einer Sekunde umschalten von Tränen auf Lachen, von Kummer auf Freude. Ich bin also noch in vollem Lauf zum Kind – „trösten, trösten, trösten“ sagt meine innere Stimme – da macht es beim Kind „klick!“, es lacht mich mit strahlendem Gesicht an: „Guck mal, Papa, was ich gebastelt habe!!“ 

All das ist normal, ganz normale Tränen, ganz normaler Kummer, ganz normale Anstrengung. So normal, dass sogar der Hund gelegentlich heult. Warum, weiß keiner, wahrscheinlich denkt er an seine früh verstorbene Urgroßmutter.

Und es ist nicht nur normal, sondern bekannt auch denjenigen, die eher nicht so zu Kindern neigen. Denen aber kaum bekannt dürfte sein, wie sehr kleine Kinder ihrerseits zum Trostspenden befähigt sind. Sie können vielleicht noch nicht richtig sprechen – aber trösten, das können sie. In die Wiege gelegt. Göttliche Mitgift.

Unser jüngstes Beispiel: elterliches Ungeschick. Die kleine Lampe ist hingefallen, der gläserne Kubus in zweiundzwanzig scharfkantige, absolut nicht klebbare Teile zersprungen. Die Eltern versuchen mühsam und annähernd vergeblich, die eigenen Tränen wegzudrücken: Das Kind selbst hatte den Kubus liebevoll bemalt im zarten Alter von drei Jahren, für Papa zum Geburtstag. Und all diese Bemühungen liegen nun da, in Scherben. Wie wird es das Kind aufnehmen, wenn es aus dem Kindergarten nach Hause kommt? Den Eltern graut. Das Kind naht.

Ein Blick zur ehemaligen Lampe. Ein Blick zu den Eltern. Die Eltern schlucken. Das Kind öffnet den Mund, doch die erwartete Wehklage, der Sturzbach bleiben aus, vielmehr: „Papa!! Dann bemale ich dir eine neue Lampe!!“ Die zweite Reaktion, noch schöner: „Da gebe ich dir erst mal einen Kuss, damit du nicht mehr so traurig bist!!“ Wie gut, dass die Lampe kaputt gegangen ist, sonst hätte ich das so nie erfahren dürfen!

Weiß das Kind, was es da tut? Kann es das reflektiert betrachten? Ich sage: ja! Es ist schon anderthalb Jahre her, das Kind war damals dreieinhalb Jahre alt. Ich holte es vom Kindergartenbus ab, wir tippelten nach Hause. Das Kind begann ein Gespräch mit den Worten „Papa, bist du traurig??“ „Nö, warum sollte ich?“ „Weil Trösten so schön ist!!“

Ist das nicht schön? Ich wurde sogleich wirklich richtig traurig, und das Kind hat mich ganz wunderbar getröstet, mir einen Kuss gegeben und mit kraftvoller Stimme dorfweit kundgetan: „Liiiiiiieb!!“

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