Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge sechzig
Ostern ist zu früh

Donnerstag, 3. Januar. Das Jahr ist frisch, Zeit fürs Plänemachen, Zeit für gute Vorsätze. Wie viel Zeit haben wir für den guten Vorsatz, im neuen Jahr weniger Schokolade zu essen? Werfen wir einen Blick in den Kalender: Islamisches Neujahrsfest, Aschermittwoch, Frühlingsanfang, Purim, und da, oha, Ostern. Schon am 23. März. Das ist einfach zu früh! Warum ist das so, und warum kann das jetzt schon gesagt werden? Ein Blick in den Küchenschrank genügt, dritte Tür von rechts. Es fallen uns vier Schokoladenweihnachtsmänner entgegen (vier große, die kleinen jetzt gar nicht mitgezählt), mehrere Packungen mit süßem Kleinzeug, im Wohnzimmer stehen zwei große Schalen mit Schokoladenengeln und Marzipankartoffeln. Dreiviertel allen weihnachtlichen Naschwerks ist dem Kind eigen, und leider weiß das Kind das ganz genau.

Nun naht also Ostern, relativ betrachtet. Denn kurz überschlagen muss das Kind pro Tag 120 Gramm Schokolade verzehren, um seine Bestände vor dem Auftauchen der ersten Schokoladenhasen zu vertilgen. Und mehr noch, wenn wir in der Passionszeit wieder „sieben Wochen ohne“ Schokolade machen.

Denn – haben wir es nicht so gelernt? – Lebensmittel schmeißt man nicht weg. Aber wir suchen Alternativen. Weihnachtsschokolade kann eingeschmolzen und in Hasenförmchen gegossen werden, dann kann sie auch nach Ostern genossen werden. Eine weitere Alternative zeigte der Hund auf, als er sich vorgestern fast umbrachte bei dem Versuch, unter den großen Dielenschrank zu kriechen – bis wir gemerkt haben, dass gleich zwei Marzipankartoffeln dorthin gerollt waren.

Schuld am Schokoladenwahn sind die anderen, jedenfalls – ganz ernsthaft jetzt – zum Teil. Und damit ist jetzt nicht die Urgroßmutter gemeint, die dem Kind zu Weihnachten eine Tafel Barbieschokolade mitbringt (gibt’s wirklich). Sondern andere Eltern.

Es ist nette Sitte, dass Kinder von der Kindergeburtstagsfeier der Freundin eine Kleinigkeit mitbringen, also teilhaben dürfen am Reichtum des beschenkten Geburtstagskindes. Unsitte ist es, dass es sich häufig nicht um ein paar Kleinigkeiten handelt, sondern um beutelweise Beute. Von der letzten Kindergeburtstagsfeier bei Pia brachte das Kind folgende Beute mit: 1 Quartett und 2 Glitzersteine und 1 Figürli und 3 Schokoladenbonbons und 1 Duplo und 1 Erdbeerbonbon und 1 Kinderschokoladenriegel und 3 Tütchen mit Gummibären und 1 Packung Brausebonbons und 1 einzelner extra Brausebonbon und 1 kleine Packung Kaubonbons und 2 Lakritzschnecken und 1 Rolle Smarties und 1 kleine Tafel Schokolade.

Da wir zufälligerweise der Meinung sind, dass es für ein vierjähriges Geburtstagskind reicht, wenn ein Geschenk vielleicht den Wert von fünf oder sechs Euro hat, müssen wir feststellen, dass der Wert der Beute den Wert des Geschenkes übersteigt. Über den Kummer mit dem verfüllten Küchenschrank, dritte Tür von rechts, ganz zu schweigen.

Ja, Ostern ist zu früh, weil Pia kurz vor Weihnachten Geburtstag hatte. Das ist schade, denn das Kind verliert ein wenig die Dimension. Schlimm genug, dass wir Erwachsenen sie ganz offenbar verloren haben und mit ihr gleich einen Sinn dafür, dass für Kinder nicht ein teures Geschenk und die ganz große Beute wichtig sind – sondern nur das Wertvollste: gemeinsame Zeit.

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