Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge dreiundsechzig
Verlauterung

Wissen Sie, wie es in einem dänischen Kindergarten aussieht? Kindergarten mit viel Geschrei in Smørbrødsprache – so denkt man sich das. Wie aber sieht es tatsächlich aus? Ich stelle es mir so vor:

Einerseits sind da natürlich die Kinder, klar. Sie laufen durcheinander, hauen einander auf die Köpfe, spielen und kreischen und malen Bilder – was Kinder halt so machen. Und dann sind da die Mitarbeiter (die rein männliche Form des Wortes ist hier angebracht, weil es im Dänischen keinen Unterschied gibt zwischen männlichen und weiblichen Wörtern). Sie sitzen inmitten des Trubels, völlig ungerührt, geradezu stoisch, vielleicht in einem Roman lesend oder eine Tasse guten Kaffees zum Mund führend. Stört sie das Kreischen nicht?

Wohl kaum. Denn vor einigen Tagen war in der Zeitung zu lesen, dass immer mehr dänische Kindergärtner Gehörschutz tragen. Die Geräte dämpfen die für Kinder typischen Frequenzen beim Schreien oder Weinen, also die eher hohen und schrillen Töne. Die Mitarbeiter seien weniger gereizt und Hörschäden würden vermieden, so ein Gewerkschaftsvertreter. Nun allerdings müssen die Kinder wohl noch lauter sein, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen. Und auch die Kinder leiden ja auch unter dem selbstproduziertem Lärm.

Man darf nicht alles so ernst nehmen, auch dänische Kindergärten nicht. Der Kindergarten, in den unser Kind geht, ist nicht dänisch und hat etwas viel Besseres als diesen komischen Gehörschutz: Die Verlauterungsampel. Klingt ja auch viel interessanter und funktioniert so:

Die Verlauterungsampel sieht aus wie eine richtige Ampel, sie ist nur ein wenig kleiner. Sie benötigt Strom und viel, viel Krach. Den Strom liefert die Steckdose, den Krach liefern die Kinder. Steigt der Lärmpegel im Gruppenraum, zeigt die Ampel ein warnendes gelbes Licht. Reicht diese Warnung nicht, wird es noch lauter, so leuchtet sie schließlich rot: Stopp, hier nicht weiter mit dem Krach!

Bei Erwachsenen heißt die Verlauterungsampel übrigens Lärmampel. Doch der von meiner Lütten kreierte Begriff ist sinniger: Mit „Ver“ beginnen alle Verbote, und verboten ist es, lauter und lauter zu werden: Ver-lauter-ungsampel. Völlig klar. Was soll „Lärmampel“ bedeuten? Wenn's grün wird, darf gelärmt werden? Eben nicht.

Also, ein überaus praktisches Ding, das sich auch andernorts mit Gewinn anwenden lässt. Nahe liegendes Einsatzfeld ist die nächste Gemeindeversammlung, auf der – völlig willkürlich gegriffen jetzt - das Thema Fusion verhandelt wird.

Doch auch jenseits von Kirche und Gemeinde lässt sich die Verlauterungsampel gut gebrauchen: Wohnen Sie an einer viel befahrenen Straße? Platzieren Sie das Gerät im Vorgarten, und wenn es zu arg wird mit Rasern und Lastwagen, so schaltet die Ampel auf rot, und der Verkehr kommt erstmal zum Erliegen.

Dass die Verlauterungsampel tatsächlich wirkt, davon konnte ich mich kürzlich selbst überzeugen. Beim letzten Elternabend wurde die Ampel zu Demonstrationszwecken in einer Ecke aufgestellt. Dezent, aber doch so, dass fast jeder sie wenigstens aus den Augenwinkeln sehen konnte. Wurde die Diskussion zu hitzig, so mahnte schnell das gelbe oder gar rote Licht zu mitteleuropäischen Umgangsformen. Nach kurzer Eingewöhnungszeit sank der Lärmpegel der Eltern deutlich...

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