Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge vierundsechzig
Neulich, beim Drogisten

Drogist ist ein altertümliches, aber schönes Wort. Ich kenne es noch von früher her. Als ich ein kleiner Junge war, gab es noch eine Mauer quer durch Städte und das ganze Land, die Autos hatten vorne eine Kurbel zum Starten, und das Benzin kaufte man, eben, beim Drogisten.

Neulich waren das Kind und ich also beim Drogisten und legten Schweinefutter in unseren Einkaufswagen und Nachrasur, und während ich mich bei den Fachzeitschriften umsah, verschwand das Kind im nächsten Quergang. Ich dachte: Klar, meine Süße, du willst dir wieder am Spielzeugregal die Augen wund gucken, weil deine komischen Eltern überflüssig langbeinige Plastikpuppen nicht so gerne mögen und dir folglich nicht kaufen.

Mitnichten. Eine Minute später war das Kind wieder da, mit zwei kleinen bunten Beutelchen Samen für bunte sommerliche Blumen. „Für Uropa!! Die will ich auf sein Grab säen!! Wenn wir wieder in Hamburg sind!!“ Ich schluckte hörbar, verkniff mir die Tränen der Rührung und den altklugen Hinweis, dass diese Art von Blümchen im Februar selbst im südlich-mediterranen Hamburg nicht gedeihen werden, und küsste mein Kind.

Wir versuchen, unsere Kinder vor allem Schwierigen zu beschützen. Das ist oft hilfreich, doch mitunter schießen wir über das Ziel hinaus. Die Welt ist nicht nur rund und schön, es gibt Schwieriges in ihr, und wir können unsere Kinder nicht vor allem und für immer beschützen. Oft genug sind wir es, die vor dieser Welt Angst haben und uns vor ihr drücken wollen mit dem Vorwand, dieses oder jenes sei eben nichts für kleine Kinder. Kleine Kinder müssen es aber lernen, mit Wut und Angst und Trauer umzugehen.

Des Kindes Uropa ist vor ein paar Wochen verstorben, und zufällig waren wir in großer Familienrunde alle anwesend, als die Nachricht überbracht wurde von seinem Tod. Das Kind hat die Trauer in der Familie ganz unverstellt miterlebt und geteilt. Einige Wochen zuvor noch hatten wir Uropa und die dazugehörige Uroma besucht. „Und jetzt ist er tot, einfach so??“ Ja, der Uropa war sehr alt. Jetzt ist er bei Gott. „Ich hab Sehnsucht auf Uropa!!“ Ja, wir auch.

Soll man kleine Kinder mitnehmen zur Beerdigung? Ist ein Friedhofsbesuch nicht viel zu schwierig für sie? Vor einigen Monaten berichtete eine Mutter auf einem Elternabend im Kindergarten, dass ihre Tochter die verstorbene Großmutter sehr vermisse, viel weine, träume und Sehnsucht nach Oma habe. Ja, kein Wunder! Die Lütte war weder mitgenommen worden zur Beerdigung noch jemals mit ihren Eltern am Grab gewesen. Wir anderen Eltern rieten der Mutter, schleunigst mit der Tochter die Oma auf dem Friedhof zu besuchen und ein Blümchen zu pflanzen, damit Trauer und Sehnsucht des Kindes einen Ort finden.

Nun werden Sie einwenden, dass kleine Kinder nicht immer friedhofstauglich sind, weil sie herumkrakeelen und auf Grabsteine klettern und den Älteren Ruhe und Besinnung nehmen. Und ich sage Ihnen, dass das Unsinn ist. Fünfjährige klettern nicht auf Grabsteine, und sie können sehr wohl ruhig sein, man muss es ihnen nur zutrauen.

Auch nehmen sie den Älteren die Besinnung nicht, sie schenken sie ihnen. Die hinterbliebene Uroma ist meine Zeugin – über keine Anteilnahme am offenen Grab hat sie sich so sehr gefreut wie über das tröstende Küsschen ihrer Urenkelin.

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