Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge fünfundsechzig
Die Stadt

Nun wohnen wir – um es vorsichtig zu sagen – in einer doch eher ländlichen Gegend, und unser Dorf misst 1000 Seelen. Gleich nebenan aber ist die große wilde Stadt. Also die wilde Kleinstadt. Naja, eigentlich ist es nur ein großes Dorf mit 2700 Seelen. Dort werden die Bürgersteige nicht um 18 Uhr hochgeklappt, sondern um 19 Uhr. Für manche aber ist es die Stadt, wild und gefährlich: Ein Freund, als Lehrer in dieser Kleinstadt tätig, wusste von einer Unterrichtsstunde zu berichten, in der man sich beschäftigte mit den Unterschieden zwischen Stadt und Land. Einer der Schüler formulierte als Fazit: „Ich kann mir nicht vorstellen, auf dem Land zu leben!“ 2700 Einwohner, wie gesagt.

Nun wohnen wir auf dem Land, doch das taten wir nicht immer. Als gebürtiger Städter konnte auch ich mir lange nicht vorstellen, auf dem Land zu leben. Wobei „Land“ gleich hinter der letzten S-Bahn-Station anfing und selbst größere Dörfer wie Flensburg oder Kiel einschloss. Doch die Wege des Herrn sind unergründlich und natürlich wunderbar. Jetzt lebe ich also als Städter auf dem Land – Landleben mit Migrationshintergrund, sozusagen.

Wollen wir es aber mal wieder richtig wild und gefährlich haben, fahren wir nach Hamburg, ab und an brauchen wir das. Und bald ist es wieder so weit. Freut sich das Kind? Das Kind freut sich. „Was gefällt dir an der Stadt?“ „Da sind so viele Bäume!!“ Ja, da schmunzelt man, hat die Lütte wieder alles durcheinander gebracht.

Doch halt. Das Kind kennt ja nur den hiesigen Landstrich: Wind und Regen grundsätzlich von vorn, am Horizont der Deich mit ein paar Schafe darauf, alle Augenblick kommt keiner. Hagebuttensträucher und vom Sturm niedrig gehaltene Kiefern sind die höchsten Gewächse weit und breit, und neben einigen Kirchtürmen und Leuchttürmen werden auch groß gewachsene Männer schon als nennenswerte landschaftliche Erhebung wahrgenommen.

Verglichen damit ist die Stadt allerdings reichlich baumbestanden. Und sie bietet dem Kind noch viele andere fremde Eindrücke. Beispielsweise viele fremde Menschen.

Fröhlich plaudernd bahnt sich das Kind seinen Weg durch die Massen. Das ist das Schönste: Alle Augenblick kommt einer. Und kann befragt werden. Ein Klassiker, auf offener Szene, hier das Kind, dort ein dem Kind völlig fremdes mittelaltes Paar: „Wo wohnst du?? Hast du dein Bett auch oben?? Ist das dein Mann?? Warum nicht??“ Schweigen. Der Dialog ist echt.

Menschen in den unterschiedlichsten Farben und Formen und Bekleidungen stellen für das Kind kein Problem dar, obwohl es bei uns im Dorf Afrikaner nicht gibt und auch keine Punks. Drei Leute im Supermarkt aber, die sich ausgesprochen lebhaft in italienischer Sprache unterhalten – da staunt das Kind schwer irritiert. Wahrscheinlich ist es ein Problem, wenn es auf ureigensten Terrain getroffen wird – auf dem Terrain des Dauersabbelns – und dabei nicht zu Wort kommt, weil es die Welt im engsten Sinne nicht mehr versteht...

Ja, die Stadt, wild und gefährlich. Und so möchte man dann doch meinen, dass das Kind nach etlichen Tagen städtischer und auch eigener Wildheit leidlich erschöpft ist, kennt es doch sonst nur den Deich am Horizont mit ein paar Schafe darauf, und alle Augenblick kommt keiner. Doch wir haben es mal wieder unterschätzt: „Papa, wann fahren wir endlich mal wieder nach Berlin??“

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