Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

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Folge neundundsechzig
Freunde fürs Leben

 

Es gibt viele Gottesgeschenke in unserem Leben, und eines der schönsten sind sicherlich Freunde. Wer ohne Freunde ist, ist arm. Ganz kleine Kinder können noch keine Freunde haben, die sind ja viel zu grobmotorisch und hauen sich im Sandkasten mit den roten und grünen Schäufelchen eines über die Schädel, wie soll da Freundschaft entstehen? Ja doch! Wir Erwachsenen können es zwar nicht sehen und können uns auch nicht erinnern, aber: Freundschaften entstehen genau so!

Später werden die lieben Kleinen dann etwas subtiler mit ihren Gunstbeweisen und hauen sich nur, wenn Papa oder Mama gerade nicht gucken. Na ja, und noch viel später, so in der Pubertät, da ist die erste Liebe dort am hartnäckigsten, wo zwei sich so ganz besonders GAR nicht beachten.

Nach der Phase eins der Freundschaftsbildung – der mit den Schäufelchen – kommt Phase zwei, in der das Kind tränenüberströmt aus dem Kindergartenbus steigt: „Leila hat gesagt, sie ist GAR nicht mehr meine Freundin!!“ Was dieselbe am nächsten Morgen natürlich wieder ist.

Mittlerweile befinden wir uns in Phase drei, in der sich Leila am nächsten Tag SEHR WOHL daran erinnern kann, dass sie des Kindes Freundin GAR nicht mehr ist und auch NIE WIEDER sein wird. Immerhin hielten die beiden es eine ganze Woche lang aus, GAR nicht miteinander befreundet zu sein. In dieser Woche waren wir allerdings auch verreist.

Die erste Begegnung nach dieser Woche fand in der Turnhalle statt, ich dachte, oha, das guck dir mal an. Ja, und WIE Leila sich dann gefreut hat, als meine Kleine auf der Bildfläche erschien ...

Die Turnhalle ist ohnehin der Ort, an dem die ganz großen Freundschaften geschlossen werden. Jedes Kind an jedem Ort: jede Woche einmal Sport – die Älteren unter uns erinnern sich an diese markigen Worte. Und also schicke ich meine Lütte einmal die Woche in die dörfliche Turnhalle zum Kinderturnen. Leider liegt zwischen dem Pastorat und der Turnhalle ein mittelstark befahrene Bundesstraße, weshalb ich das Kind zum Turnen bringen und es von dort auch wieder abholen muss.

Neulich nun konnte ich in eben jener Turnhalle beobachten, wie eine Freundschaft fürs Leben geschlossen wurde. Ich lungerte ein wenig im Umkleideraum herum, denn meine Lütte brauchte wieder eeewig zum Umziehen, weil sie zwischendurch mit siebzehn anderen Dingen und Gedanken beschäftigt war, darunter mit Nicholas. Da ich mich nicht zum Affen machen wollte, indem ich meine Fünfjährige anziehe, was die an sich seit zwei Jahren allein kann, machte ich mich zum Affen, indem ich eeewig auf meine Fünfjährige wartete.

Nicholas aber ist sechs Jahre alt. Da muss eine Fünfjährige schon mal rüberschielen, rüberlächeln, sich ein wenig drehen, noch mal kurz zeigen, dass sie den Handstand schon fast GANZ cool kann und dass das Hinfallen dabei auch fast GAR nicht weh tut. Zumindest nicht auf dem harten Steinfußboden im Umkleideraum. Und dann entspann sich noch folgender Diskussion:

„Du bist doof!“ „Nein, ich bin nicht doof, du bist doof!“ „Nein, du bist doof!“ „Nein, du!“ „Du!“ „Du!“ „Du!“

Und so weiter. Wenn es nicht irgendwann dunkel geworden wäre und Nicholas’ Mutter und ich nicht auch irgendwann Hunger bekommen hätten, dann würden sie heute noch diskutieren. Wahrscheinlich bis zur Pubertät.

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