Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge zweiundsiebzig
Gurke geht nicht mehr

Immerhin haben wir – das Kind, der Vater, die Leser – uns nun schon bis zur Folge 72 vorgearbeitet. Grob gerechnet hat das Kind also ein gutes Drittel seiner Lebenszeit unter den Augen der treuen Leserschaft gelacht, gelernt, geplaudert, gespielt, geweint und Apfelsaft verschüttet. Da möchte man denken, dass es sich in dieser Zeit auch rechtschaffen verändert hat und weiterentwickelt, Umschwünge noch und noch und Lernprozesse ohne Ende. Machen wir den Test und greifen wir wahllos ins Archiv, ziehen ein Blatt heraus, Folge siebenunddreißig: Gurke geht!

Da war zu lesen von den Essgewohnheiten des Kindes: Gurke geht, Salat geht nicht. Schafskäse geht nicht, Ziegenkäse geht. Und heute? An all dem hat sich wenig geändert – Obst geht immer noch GAR nicht.

Ostereier und Schokoladenhasen gingen natürlich hervorragend, klar. Nach all der Auferstehungsvöllerei wird jetzt aber wieder irdisch gesund gegessen. Dabei hilft uns der Kindergarten, der ist zwar ebenfalls christlich, jedoch auch ernährungsbewusst. Dort gibt es zweimal in der Woche ein Müslifrühstück und neuerdings das „Kinderrestaurant“. Ich finde das großartig, denn jetzt kann ich morgens dreieinhalb Minuten länger schlafen und muss keine Möhren mehr schaben, keine Gurkensticks mehr basteln. Die bekommt das Kind ja jetzt im Kindergarten. Dachte ich jedenfalls bis vor kurzem.

Der Kindergarten hat eine eigene Köchin – Köcherin, wie das Kind sagt – und die bastelt Tag für Tag ein wunderbares Büffet für die Kleinen: mit Obst und Gemüse, mit verschiedenen Brotsorten und Marmeladen und Honigen und keiner Nusscreme.

Neulich hatte ich mitten am Vormittag in der Nähe des Kindergartens zu tun. Und dachte mir: Schau doch mal im Kindergarten vorbei, wie das so aussieht mit diesem neuen Restaurant. Da stand ich dann unauffällig in eine Ecke gelehnt und sah alles. Nebenbei: Wussten Sie, dass sich Kinder im Restaurant viel besser benehmen als Erwachsene?!

Erwachsene nehmen sich am Büffet ja den kleinsten, weil billigsten Teller und häufeln ihn dann bis in die Höhe von achtunddreißig Zentimetern voll mit den allerbesten Dingen („Beute machen! Beute machen!“), und auf dem Weg zum Tisch sinkt der halbe Turm dann in die Auslegeware.

Kinder hingegen nehmen sich einen Teller, eine Scheibe Brot und eine Scheibe Käse. Und dann setzen sie sich hin und essen. Stellen fest, oha, ich hab noch Hunger. Stehen auf und gehen zum Büffet und nehmen sich eine Scheibe Brot und eine Scheibe Wurst. Und dann noch einmal vielleicht und noch einmal und notfalls so lange, bis der Abend graut. Bis sie satt sind. Ich konnte das genau so beobachten bei meinem Besuch neulich.

Ich konnte allerdings auch beobachten, dass mein eigenes Kind dem Knäckebrot und dem Käse ordentlich zusprach, die Schälchen mit geschabten Möhren und Gurkensticks jedoch vollständig ignorierte. Schlimmer noch: Ich sah, dass das Kind diesen Bereich des Büffets mied, als sei ihm dort unwohl, ja, es ging geradezu in einem Bogen herum um die Schälchen. Ein kleiner Bogen war es nur, aber er war deutlich zu sehen.

Jetzt frage ich mich: Was hat es eigentlich mit den Hunderten von Möhren und Gurkensticks gemacht, die ich früher in morgendlichen dreieinhalb Minuten gebastelt habe?

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