Das Kind
Erzählung von Lina Kolbe

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Folge dreiundsiebzig
Fleischwurst geht gut

In der letzten Woche war an dieser Stelle vom vormittäglichen Kinderrestaurant im Kindergarten die Rede. Und wie erfreulich es ist, dass das Kind auch in der Fremde ein gesundes und vielfältiges Angebot an Speisen und Getränken offeriert bekommt.

Nun hat jedes Ding zwei Seiten, und die zweite Seite dieser löblichen Einrichtung findet mittags bei uns zuhause statt. Davon soll heute berichtet werden.

Denn neulich hat unser Kind beim Mittagessen exakt einmal (in Worten: einmal) von seinem Mittagsbrot abgebissen – bei uns wird abends warm gegessen und mittags eher so skandinavisch. Auf unsere besorgte Frage, ob es nicht mehr Hunger habe, ob es gar krank sei, ob es Sorgen habe, ob wir uns Sorgen machen müssten, antwortete es gepresst: „Ich hab im Kinderrestaurant SECHS Portionen gegessen!!“ An dem Tag hat die Köchin – Köcherin, wie das Kind sagt – kleine Brötchen gebacken, die fraglos lecker waren, und ganz offenbar hat das Kind mit seiner aktuellen Lieblingsfreundin einen kleinen Esswettkampf veranstaltet. Die beiden müssen bis zum Platzen voll gewesen sein, wenn noch um ein Uhr mittags die Nahungsaufnahme praktisch verweigert wurde.

Nach seiner Mittagspause hatte das Kind allerdings einen Bärenhunger und einiges nachzuholen. Es aß zwei Schreiben Brot und hatte – logisch – abends keinen Hunger. Insgesamt hat es drei Tage gedauert, bis der normale Essrhythmus wieder erreicht war... so eine Art kulinarischer Jetlag.

Doch all das ist die Ausnahme, eben wenn die Köcherin kleine Brötchen bäckt. Normalerweise kommt das Kind hungrig nach Hause, so wie es sein soll: Viel getobt, viel gelernt, viel gespielt (was ja auch irgendwie alles dasselbe ist). Sehr hungrig. Sehr müde. Und trotzig. Und rotzig.

Der aus Erschöpfung geborene Trotz äußert sich meistens unblutig und verbal – und trifft mich aus heiterstem Himmel. Ich, höflich zum Kind: „Mein Liebes, kannst du dir bitte mal eben die Hände waschen vor dem Essen?“ Kind, sehr laut zu mir: „NEIN!! Das kann ich NICHT!! Dann bin ich eben GAR nicht mehr dein Kind!!“ Und schwingt die rechte Faust.

Da hilft nur eines: die zügige Zufuhr frischer Energie. Wie aber funktioniert das mit der Energiezufuhr? Das ist nicht so einfach, wie es sich anhört. Sehen Sie selbst:

Das Kind kommt erschöpft aus dem Kindergarten. Stapft mit letzter Kraft von der Bushaltestelle nach Hause und die Warft hinauf. Kriecht auf allen Vieren ins Haus, in die Küche, auf seinen Stuhl und legt das müde Haupt – schon schlafend! – auf seinen Teller.

War ich schlau und schnell, dann liegt auf diesem Teller ein kleines Stückchen Käse und ein kleines Stückchen Fleischwurst. Das Kind nimmt mit dem Unterbewusstsein Witterung auf, weil es direkt unter seinem linken Ohr so verführerisch duftet. Mit der letzten Kraft – immer noch schlafend! – umfassen die Lippen das Käsestückchen.

Und das Kind erwacht zu neuem Leben. Die kleine Portion Energie reicht zum Heben des Kopfes, zum Ausstrecken der Hand nach dem Fleischwurststückchen. Dann geht es Schlag auf Schlag, Brot auf Brot, Wurst auf Käse. Eben noch Heulen und Zähneklappern oder vielmehr gar kein Klappern mehr – jetzt schon fröhliches Erzählen und Scherzen.

Der Tag ist gerettet. War aber knapp.

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