Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge achtundsiebzig
Ambivalente Welt

Eben noch war die Welt rund und gut, da wird sie mit einem Mal und ohne Grund so richtig mies. Ein Sturzbach bricht aus dem Kind heraus. Warum nur? Weil sie im Kindergartenbus heute neben Züntia sitzen wollte, der Platz aber bereits besetzt war. Wie kann das sein? Wie darf das sein? Warum ist die Welt so, wie sie ist? Ein Erwachsener kann das nicht verstehen.

Wirklich nicht? Manches können wir nur zu gut verstehen, wenn wir ernsthaft darüber nachdenken. Und natürlich gibt es auch in meinem ach so erwachsenen Leben viele Ambivalenzen. Ich habe allerdings gelernt, mit ihnen umzugehen, und ich kann meinen Frust, meinen Zorn, meine Trauer halbwegs in Schach halten. Meistens jedenfalls.

Ein Kind muss diese Variante des Schachspiels erst lernen. Und dieses Lernen gehört zum Kindsein dazu. Dieser Prozess ist auch für alle anderen Umstehenden – Eltern zum Beispiel – nicht frei von Frust, Zorn und Trauer. Man kann nur hoffen, dass diese Eltern schon gelernt haben, ihre Gefühle in Schach zu halten. Was ja bekanntlich nicht bei allen Erwachsenen der Fall ist.

Manchmal kann man es richtig sehen, wie ein Kind lernt und sich weiterentwickelt. Da kommt es des Mittags erschöpft im häuslichen Leben an, nachdem es sein vormittägliches Leben im Kindergarten bravourös, aber eben erschöpfend gemeistert hat. Und trifft auf Papa. Der zwitschert dem Kind nach einem freundlichen „Hallo-wie-geht’s-und-wie-war’s-sonst-so?“ auch noch ein geradezu gesungenes „Kannst-du-bitte-schnell-Hände-waschen-wir-wollen-gleich-essen“ zu. Und das war dann der berühmte Tropfen. Kreischen und Zetern, Weinen und Stampfen: „Papa, du bist DOOF!!“

Irgendwann sind dann die Schuhe abgeworfen und die Hände halbwegs sauber. Das Kind tappt, noch immer leise schmollend, in die Küche an den Esstisch, wohl wissend, dass Papa doof ist. Dort liegt neben des Kindes Tellerchen allerdings etwas kleines Süßes zum Nachtisch. Ist Papa nicht doof? Aber ist er nicht auch lieb? Beides. Jetzt weiß das Kind nicht, wie Papa wirklich ist. Und erkennt dann klar: „Papa, du bist doof UND lieb!!“

So kann man es sagen. Es ist nicht ganz unwichtig für ein Kind zu erkennen, dass Eltern nicht immer lieb sind. Eltern haben ihre Gründe dafür, auch mal doof zu sein: Weil sie müde sind, weil sie genervt sind, weil sie Angst haben, weil sie traurig sind. Das Kind selbst ist ja auch nicht immer lieb. Weil es müde ist, weil es genervt ist und so weiter. Das Kind muss lernen, mit seinem doofen Papa klar zu kommen. Ich muss ja auch lernen, mit meinem doofen Kind klar zu kommen. Grundsätzliches Vertrauen zum Papa, zur Mama, zum Kind ist natürlich Vorraussetzung.

Jetzt, so kurz vor der Geburt des Geschwists, ist das Kind besonders vertrauensbedürftig. Es klettert häufiger auf meinen Schoß zum Kuscheln, abends muss ich länger vorlesen als sonst, und ist die Mutter weg, ist das ein noch viel größeres Drama als ohnehin schon.

Hier müssen wohl alle Schöße, alle Zeiten, alle Räume schnell noch nachdrücklich besetzt werden – bevor da ein unberechenbares anderes Wesen kommt und womöglich diese Zeiten und Räume selbst besetzt. Dann wird die Welt vollends ambivalent.

Allerdings hat das Kind ja gerade ein bisschen gelernt, aus Ambivalenzen das Beste zu machen. Wahrscheinlich ist das Geschwist doof UND lieb.

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