Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge achtzig
Wo ist das Kind?

Dass man ein kleines Kind einen halben Tag lang suchen kann – und wenn es hart kommt, nach Stunden der Suche und mit den schrecklichsten Bildern im Hinterkopf schlafend im Kleiderschrank findet – ist bekannt. Versteck spielen ist einfach großartig, besonders, wenn Papas Rufe so einen leicht panischen Unterton bekommen.

Doch auch ohne Versteckspielen ist das Kind nie da, wo man es vermutet, noch da, wo es vor vier Sekunden war. Die Wege des Kindes sind unergründlich. Eine Fünfjährige „leiht“ sich den Tesafilmabroller, nimmt den Fahrradhelm unter den Arm und verkündet „Ich geh mal eben aufs Klo!!“ Suche ich sie wenig später, ist sie weder in ihrer Bastelecke noch mit dem Rad im Hof noch auf der Toilette. Egal was sie vor vier Sekunden gesagt hat, ich muss immer im ganzen Haus suchen.

Vor einigen Wochen war in der Zeitung von einem Lütten im Hunsrück zu lesen, der sich die Welt erkundete. Nach dem Kindergarten ist er zum Bahnhof getippelt und hat sich kurzerhand in den nächsten Zug gesetzt. Die Reise endete an der nächsten Station: Ein Fahrgast verpetzte den Abenteurer und übergab ihn der Polizei. Seitdem habe ich bei der Suche nach meinem Kind noch mehr Bilder im Hinterkopf. Zwar wohnen wir nicht im Hunsrück, doch auch unser Dorf hat einen Bahnhof.

Wo also ist das Kind jetzt gerade? Es sitzt nicht im Zug, es macht nicht Urlaub von den Eltern – es hat ein ganz anderes großes Abenteuer zu bestehen! Es hat nämlich einen Bruder bekommen. „Mein Baby!!“ Und eben bei diesem Baby ist das Kind die meiste Zeit des Tages. Praktisch: Das Abenteuer findet in den eigenen vier Wänden statt. So muss ich jetzt nicht mehr im ganzen Haus suchen, wenn ich suche: Das Kind ist beim Baby. Und da bin natürlich auch.

Die Begeisterung ist groß. Die vor einigen Wochen noch schnell in Sicherheit gebrachte Rassel – „Die brauche ich noch!!“ – und der für Teddy bestimmte alte Strampler wurden umgehend hervorgeholt und dem Baby liebevoll überreicht.

Welches sich noch nicht wirklich für diese Liebesgaben interessieren mag. Denn es schläft entweder in seinem Bettchen (oder auf irgendeiner anderen beliebigen horizontalen oder sogar vertikalen Fläche) oder labt sich an der Mutter. Beim Wechsel vom einen in den anderen Aggregatzustand schreit es. Sonst ist nicht viel. Außer natürlich, dass es hinreißend süß ist und das schönste Baby von der Welt.

Das findet auch das Kind. Da wird übers Sofa geklettert und aufs Bett gerobbt, um den kleinen Bruder aus allen denkbaren Lagen zu beobachten und zu streicheln. Da werden eilfertig Windeln und Tücher und Lappen und Decken und Mützchen hin- und hergetragen. Da werden Pläne geschmiedet für die nähere und fernere Zukunft. „Heute Nachmittag fahren wir an den Deich und gehen Eis essen mit Baby!!“ Und schleppt schon mal die kleine Babyschale die Treppe hoch.

Ein schwer zu bremsender Aktionismus, der den Eltern selten zwiespältige Gefühle abverlangt: Einerseits nervt dieses Getue, diese Hektik, dieses Hin und Her! Vor allem, wenn es doch primär darum geht, das Baby vom Schreien ab- und zur Nahrungsaufnahme anzuhalten. Andererseits ist diese überbordende schwesterliche Liebe gegenüber einen schreienden kleinen Paket ebenfalls hinreißend süß! Wie viel Liebe so eine ja auch irgendwie noch recht kleine Fünfjährige geben kann! Was für ein wunderbares Geschenk!

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