Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge dreiundachtzig
Tür zu!

Vorgelesen zu bekommen ist das Größte für Kinder. Außer Schokoladeneis vielleicht. Das war schon immer so (das Vorgelesenbekommen und das Schokoladeneis). Damals, als ich ein kleiner Junge war, war es so, und heute ist es genau so. Nur die Bücher haben sich geändert, Gott sei Dank!

Damals, in den schwergängigen Siebzigern, nahm meine Mutter mich auf ihren Schoß und ein dickes Buch mit dramatisch pädagogischen Vorlesegeschichten. An einige dieser Geschichten kann ich mich heute noch erinnern, sie waren offenbar prägend. Eine davon war die Geschichte von Heini. Ich weiß ihren Titel nicht mehr, doch ihr Inhalt hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. Heini bekam es nicht gebacken (so stand das da natürlich nicht), die Türen hinter sich zu schließen. Haustür, Hoftür, Kinderzimmertür, der Türen waren viele, alle blieben offen. Na ja, irgendwann stand dann der grässliche Hund vom Nachbarn Aug’ in Auge vor Heini, weil der wieder irgendeine Tür offen gelassen hatte.

Aber er hat’s überlebt. Und ich habe die Pädagogik der Siebziger überlebt. Und die Geschichte hat überlebt, in meiner Erinnerung. Dort findet sich auch ein väterlicher Ruf: „Tür zu!“, und ein mütterliches Flehen: „Kannst du nicht bit-te ein-mal die Tür zumachen?“

Heute rufe und flehe ich selbst. Unser Kind heißt nicht Heini, aber das mit den Türen ändert sich nimmer. Man kann sich den Mund fusselig reden. Haben meine Eltern ja auch gemacht.

Sitzt also das Kind auf’m Klo. Bei offener Tür. Ich bin nicht prüde, aber wer die Warft heraufkommt, kann durch’s Dielenfenster direkt in die Toilette reingucken, wenn die Tür offen ist. Muss nicht sein, erkläre ich dem Kind. Weiß das Kind auch, habe ich ja oft genug erklärt. Ist im Kopf drin, an sich. Nur vom Kopf zur Hand zur Türklinke, da fehlt irgendwie ein Stück Nerv oder so.

Jetzt, da die Tage hell und warm sind, stehen auch andere Türen gerne offen und das eine oder andere Fenster auch. Frühling lässt sein blaues Band und so weiter, es ist ja auch schön. Allerdings hat das Pastorat in der Summe sechs Außentüren, und an warmen Tagen stehen Minimum zwei offen. Geht man dann nichts ahnend von der Küche zum Kompost und öffnet also eine dritte Außentür, hört man es irgendwo weit hinten im Haus mächtig krachen, das war die zweite Tür, die der durchziehende Wind zugedonnert hat. Aus solch windigen Gründen heraus schätze ich es, wenn die eine oder andere Zwischentür geschlossen bleibt. Oder nach dem Durchschreiten wieder geschlossen wird. Besonders die Tür zu meinem Arbeitszimmer.

Kommt also das Kind mit dem Fahrradhelm unterm Arm, „leiht“ sich meinen Tesafilmabroller und geht wieder. Lässt auf seinem Weg sämtliche Türen offen, ich rufe noch mit väterlich mittellautstarker Stimme „Tür zu!“, höre ein sich entfernendes „Wie bitte??“. Da klingelt’s an der Eingangstür, meine Lieblingspastorin öffnet, der Wind zieht kraftvoll durchs Haus und räumt meinen Schreibtisch komplett leer. Man hört es in der Ferne mächtig krachen und ich robbe die nächste Viertelstunde auf dem Boden herum und sammle alle heruntergewehten Blätter und Kinderkunstwerke und Zettelchen zusammen.

Zum Glück hat die Lütte auch die Klotür offen gelassen, so kann ich ihre Hilfeschreie hören. Weil bei ihr die Zettelchen gerade alle sind.

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