Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge fünfundachtzig
Mal kurz nachgefragt

Das Thema ist die Frage. Welches Thema? Eben. Eine fragwürdige Angelegenheit. Und als Vater ist man sowieso alle Zeit fragwürdig, also einer Kinderfrage würdig. „Papa...??“ Ja, mein Schatz?

Allen liebenden Eltern vertraut ist der ungezügelte Eifer ihrer Kinder bei der Wissensaneignung. Sie äußert sich in einem unendlichen Strom an Was-ist-das?-Fragen und Warum?-Fragen. Was ist das? Ein Stern. Was ist ein Stern? Ein Himmelskörper, ein ferner leuchtender Ball, der in der Nacht funkelt. Warum? Weil er Licht ausstrahlt wie unsere Sonne. Warum? Na ja, und so weiter, Sie können es sich vorstellen und ich werde jetzt hier nicht den ganzen Dialog preisgeben und schon gar nicht sein für mich nicht so schmeichelhaftes Ende.

Nun gibt es noch eine Steigerung der Fragerei: Die Nachfragerei. Sie wiederum gibt es in zwei Varianten.

Zuerst ist da die ja auch vielen Erwachsenen vertraute Variante, die nicht auf Wissensaneignung abzielt, sondern auf „Selbstbestätigung durch Wahrnehmung des Klanges der eigenen Stimme“, wenn eigentlich gerade andere Menschen reden über eigentlich ganz was anderes. Getreu dem Motto „Es ist alles gesagt, aber noch nicht von jedem“: Ein an sich bekannter Sachverhalt muss von jedem Anwesenden in der Besprechung oder beim familiären Treffen am Kaffeetisch wiedergekäut werden. Unbedingt in diese Rubrik gehört auch die „Meinung ohne Ahnung“. Sie stellt eine Schnittmenge zwischen Erwachsenen und Kindern dar, denn man trifft sie gleichfalls bei Fünfjährigen.

Die zweite Variante der Nachfragerei ist die sich vergewissernde. Sie zeugt in Umbruchphasen von einer ganz natürlichen Unsicherheit und dem Versuch, diese zu überwinden. Zu solchen Umbruchphasen gehören Umzüge, ein frisch in die Familie eingeführtes Baby, ein Wechsel in der Führungsriege der Kindergartengruppe oder die Vorbeifahrt des jetzt wirklich ultimativ allergrößten Mähdreschers von der Welt. Die sich vergewissernde Nachfrage manifestiert sich als „Oder, Papa?“ und wird an jede, aber auch an wirklich jede Feststellung angehängt. Oder, Leser?

„Das war jetzt aber ein großer Mähdrescher. Oder, Papa?“ Es reicht, wenn ich zur Vergewisserung des Kindes an dieser Stelle jetzt einen zustimmenden Laut grunze, was angesichts des gegenwärtigen Ausmaßes der Nachfragerei meiner Großen zu einer Art Dauergrunzen meinerseits führt. Wie gut, dass wir auf dem Land wohnen, da fällt das Gegrunze gar nicht so auf. Erstens gibt es hier ja auch Schweine, und zweitens redet der Küstenbewohner ja ohnehin nicht viel, und mitunter behilft er sich mit einem Grunzen.

„Der war knallgrün, der Mähdrescher. Oder, Papa?“ Grunz. „Der gehört Oke. Oder, Papa?“ Grunz. „Den hat er neu. Oder, Papa?“ Grunz. Und so weiter. Versuchen Sie mal ein ernsthaftes Gespräch mit einer Fünfjährigen anzuzetteln auf der Basis von „Oder, Papa?“ und Gegrunze.

Gestern Abend fand die Nachfragerei einen vorläufigen Höhepunkt, ein Höhepunkt, der nicht mehr zu steigern sein dürfte. Das Kind ist satt, es ist vom Dreck des Tages halbwegs gereinigt, die Zähnchen sind gebürstet, der Schlafanzug duftet frühlingshaft, eine Geschichte wurde gelesen – der Tag ist also zu Ende. Ich bette mein Kind und decke es liebevollst zu und küsse es zart. Schon halb im Schlaf murmelt es versonnen: „Papa, ich hab dich lieb! Oder, Papa?“

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