Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge achtundachtzig
Pädagogisch wertvoll

Vor einigen Folgen war die Rede von meinem Vater, dessen Stimme ich noch im Ohr habe, wie er pädagogisch wertvoll und väterlich liebevoll ungefähr so formulierte: „Tür zu!“ Auch das dicke Buch mit den Vorlesegeschichten meiner Mutter wurden bereits erwähnt, in einer der Geschichten spielte genau so eine Tür die Schlüsselrolle.

Eine andere Geschichte in diesem Buch hieß „Für fünfzig Pfennig Freundlichkeit“ und handelte von einem Jungen, der im Bus saß und das Geld für die Fahrkarte vergessen hatte. Der Schaffner kam, und ein freundlicher Herr schenkte dem verzweifelten Jungen die fehlenden fünfzig Pfennige. Der Junge erzählte es später seinem Vater, der tat vor lauter Dankbarkeit dem nächsten Bedürftigen Gutes, und so ging eine Kette von Wohltaten durch die kleine Stadt, von einem Dankbaren bis zum nächsten Beglückten, jeder auch ein wenig begüteter als sein Vorgänger, bis am Ende ein Industrieller dem städtischem Kindergarten zu einem neuen Spielplatz verhalf.

Diese Geschichte war schon in den Siebzigern barer Unsinn: Fahrkarten musste man beim Fahrer kaufen, es gab längst keine Schaffner mehr. Heute müsste man die Geschichte geradezu übersetzen: Was ist ein Schaffner? Was sind Pfennige? Wo kann man Bus fahren für umgerechnet fünfundzwanzig Cent?

Nun bin ich – trotz väterlich liebevoller Stimme, trotzt pädagogischer Geschichten - halbwegs geraten. Glaube ich. Der Grad des Geratenseins ist im Bekanntenkreis vielleicht umstritten, aber auf „halbwegs“ könnte man sich sicher einigen.

Aber wollte ich so sein wie ich bin? Wollte ich nicht ganz anders sein als andere? Wollten nicht sowieso immer alle anders sein als alle anderen? Punk for ever! Ride hard, die young! Wollten wir nicht die sein, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben? Geworden aber sind wir: wie unsere Eltern. Und so ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich mit pädagogisch wertvoller Stimme rede! Wie ein Erwachsener! Schrecklich!

Doch das Beschämendste ist, dass im Kleinen alles wiederkehrt. Dass man als Eltern jede pädagogische Rede über kurz oder lang von seinem Kind um die Ohren gehauen bekommt.

Ein Beispiel: Das Kind soll nicht in der Nase bohren – zumindest nicht, wenn ein anderer es sehen könnte. Erkläre ich. Und setze mich mit dem Kind ins Auto, wir fahren einkaufen. Das Radio dudelt eine leise Melodie, der Motor brummelt zuverlässig, ich hänge meinen Gedanken nach – da höre ich mit einem Male von der Hinterbank „Papa!! Man bohrt nicht in der Nase!!“ Wer hat den Innenraumrückspiegel erfunden? Wieso funktioniert das Ding in beide Richtungen?

Ja, als Vater ist man immer ein Vorbild. Nicht nur, was die Nase angeht, auch, was den Mund angeht. Sind Wörter nicht ein Spiegel der Seele? Also soll das Kind nicht schimpfen noch gotteslästerlich fluchen. Ich erkläre es dem Kind, ich benenne die Wörter, die ich wirklich gar nicht mehr hören will, nicht in den eigenen vier Wänden und auch sonst nicht.

Wenige Stunden später frickel ich an meinem Computer herum, weil dieses verfluchte, vermaledeite Scheißprogramm absolut gar nicht das macht, was es machen soll, da wirft mein Kind die Arbeitszimmertür zu mit den Worten „Jetzt mach ich bei dir die Tür zu, weil man ‚Scheiße!’ nicht sagt!!“

Das war dann wohl pädagogisch wertvoll.

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