Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge neunundachtzig
Fräulein Oberschlau

Natürlich wissen Erwachsene – Eltern zum Beispiel – vieles viel besser als ihre Kinder: mehr Erfahrung und mehr Übung in so manchen Dingen. Und genauso natürlich eifern Kinder ihren Eltern nach und wissen also auch immer schwer Bescheid. „Papa, Pferde sind Wiederkäuer.“ „Nö.“ „Doch, Papa!! Ich weiß das ganz genau, weil: Ich liiiebe Pferde!!“ Auf der Ebene kann man herrlich lange fruchtlos versuchen, sein Kind schlauer zu machen, und macht es im besseren Fall oberschlau und im schlechteren bockig.

Dann gibt es die Fälle, in denen das Kind tatsächlich schlauer ist und Papa nur denkt, er selbst sei der Schlaue. Und, ich kann Ihnen sagen, diese Fälle sind häufiger, als wir Erwachsenen uns das wünschen können. Oft merken wir noch nicht einmal, dass die Kinder schlauer sind – weil wir oberflächlich sind oder nicht richtig zuhören oder denken, etwas muss so und so sein, weil es ja schon immer so und so war.

Doch mitunter möchte ich mit meinem Kind einfach nur ohne jeden Tiefgang plaudern: „Oh, guck mal, was für eine dicke Spinne.“ Und das Kind, ganz lässig von oben herab: „Is ne Kreuzspinne, Papa.“ Danke, Fräulein Oberschlau!

Wie begegnet man nun einer fünfjährigen Besserwisserin? Natürlich mit väterlichem Stolz. In ihrem schönen kleinen Buch „Ex Libris. Bekenntnisse einer Bibliomanin“ macht die Autorin und Lektorin Anne Fadiman ähnliche Erfahrungen: „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat unsere sechsjährige Tochter das Familiengen des Korrigierenmüssens geerbt. Sie beherrscht die Rechtschreibung zwar noch nicht gut genug, um Wörter zu korrigieren, aber in ihr schlummert eine künftige Korrekturkoryphäe. Als sie zweieinhalb war, deutete George auf unser Vogelhäuschen und sagte zu ihr: ‚Sieh mal, Susannah, eine Meise!’ Susannah sprach darauf die vernichtenden Worte: ‚Nein, Daddy, eine Blaumeise.’ Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie beginnt, fehlende Buchstaben in Wörter einzufügen.“

Vielleicht wird mir Letzteres irgendwann auch passieren. „Oh, Papa, du hast in deiner letzten Kolumne schon wieder zwei Fehler gemacht!!“ Ob ich dann auch noch stolz sein werde?

Es ist nicht nur väterlicher Stolz, es ist auch mütterliche Geduld, die gefordert ist. So ist beim Kind die Anteilnahme am Wachsen und Gedeihen unserer jüngsten Neuerwerbung – dem Baby – groß. Besonders eindrücklich waren offenbar die Besuche der Hebamme. Sitzt da unsere Große auf dem Rand des Sofas und blickt mit echtem Hebammenblick auf die Mutter, die das Baby nährt. Und führt mit der Stillenden einen gewissenhaften Hebammendialog: „Wann ist er zuletzt gestillt worden?“ „Trinkt er gut?“ „Hast du mal probiert, wenn du auf der Seite liegst, vielleicht geht es dann besser?“ „Spuckt er?“ „Er sieht aber viel besser aus als beim letzten Mal!“ Das ganze Programm, komplett, im Originalduktus.

Manchmal allerdings gerät die mütterliche Geduld in einen Grenzbereich: Das Baby ist beidseitig gesättigt. Das Baby rülpst. Das Baby bricht in markerschütterndes Brüllen aus. Die Fünfjährige kommt vorbei, mit meinem Tesafilmabroller in der einen Hand und seinem Fahrradhelm unter dem Arm. Blickt im Vorbeigehen lässig in Richtung der erschöpften Mutter und formuliert oberschlau: „Wahrscheinlich Hunger!!“

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