Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge dreiundneunzig
Der große Strom

Nun war das Kind allerdings zwei Wochen in der großen Stadt: Eisbuden an jeder Ecke, Spielplätze bis zum Abwinken, der große Fluss mit den vielen Schiffen und den kleinen hurtigen Fähren dazwischen. Und den tollen Fähranlegern, auf denen weitere Eisbuden stehen.

Als ich ein kleiner Junge war, war ich oft am Fluss, mit den Eltern oder mit Oma. Allerdings war der Fluss damals ziemlich dreckig, weil zwischen der Quelle des Flusses und dem Stadtteil, in dem wir lebten, nicht nur ein Hafen war, sondern auch die DDR, die dem Fluss allerlei ungeklärte und ungeklärte Dinge mitgab.

Siebziger Jahre, bestes Sonnensommerwetter, weißer Strand, munter plätschernde kühle Wellen, Segelboote und Frachtschiffe, aber: „Geh da mal nicht mit den Füßen rein, die fallen dir sonst ab!“ Noch heute höre ich Omas warnende Stimme.

DDR war damals, heute bin ich mit meiner großen Lütten in eben dieser Stadt, an eben diesem Fluss. Wir lagern uns im warmen Sand. Ich döse und kratze mich am Knie. Bemerke irgendwann, dass alle Kinder im Fluss planschten. Bemerken irgendwann, dass meine Lütte das auch tut.

Wenn mein Kind das darf, darf ich das auch. Ich beschließe, den warnenden Stimmen aus meiner Erinnerung die Stirn zu bieten und der DDR auch. Werfe die Klamotten ab und gehe ins Wasser. Es kostet mich einige Überwindung. „Geh da mal nicht mit den Füßen rein, die fallen dir sonst ab!“ Wer als Kind über Jahre hinweg eingetrichtert bekommt, dass der Fluss dreckig ist und giftig, der geht nicht mal eben ins Wasser.

Hernach liege ich wieder am Strand, fühle die DDR in mir kleiner werden, döse und kratze mich am Knie. Lausche mit halben Ohr dem Redefluss meines Kindes ... lasse die Gedanken schweifen ...

Mir fällt auf, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen einerseits den Geräuschen des Wassers und unseren Wörter dafür und andererseits den Geräuschen des Kindes und meinen Wörtern dafür! Da quatschen die Füße meines quatschenden Kindes im Elbwatt. Da plätschern die Wellen, plätschern die Wörter. Da ist der große Fluss im Hintergrund, da ist der Redefluss im Vordergrund. Beide können auch zum großen Strom werden, zu einer reißenden Flut gar.

Für alles Mögliche gibt es Grenzwerte, gerade für Menschen, die einer Dauerbelastung ausgesetzt sind. Nur für Eltern gibt es solche Grenzwerte nicht, die Flut der Wörter, die sie mitzureißen droht, darf unbegrenzt sein. Und ist es auch.

Schlimmer noch: Die Flut beeinflusst auch die elterliche Wahrnehmung der restlichen Welt! Ich stehe am Stubenwägelchen und betrachte mit väterlichem Stolz den Ganzlütten. Der liegt da im Wägelchen und grinst mich an, ich grinse zurück. Er brabbelt los, ich werde nachdenklich. Wird er später auch so viel reden wie seine große Schwester? Um ihr etwas entgegenzusetzen? Oder wird er verstummen, weil er sowieso nie zu Wort kommt!? Vielleicht verzweifelt auf eine Lücke im Gespräch wartet? Wahrscheinlich wird er sehr lange gar nicht sprechen und dann irgendwann aus heiterem Himmel um sich schlagen und los schreien „Ich will auch mal was sagen!!“

Bis dahin überflutet uns die große Lütte. Neulich, mitten im abendbrotlichen Redestrom, ein kurzer Einblick in ihre Selbstwahrnehmung: „Ich hab mir abgewöhnt so viel zu sabbeln!!“

Kurze Stille. Dann alles überflutendes Gelächter der Eltern.

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