Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge vierundneunzig
Phasen

In der letzten Woche war hier die Rede vom Wasser und seinen Geräuschen, vom Kind und seinen Geräuschen. Also vom kindlichen Dauerreden, das gelegentlich wie eine Flut über die Eltern und andere sich gerade in der Nähe befindende Menschen hereinbricht. Und wie sagen Eltern so schön? Von mir hat sie das nicht!

Vom wem hat sie es aber dann? Wenn Mann das wüsste... Eine andere Erklärung ist die sympathischere: „Es ist ja nur eine Phase!“ Ich bin sicher, das mein Kind keine dauerquasselnde TV-Moderatorin wird, sondern dass es sich um eine Phase handelt. Die vielleicht von einer Phase tiefsten Schweigens abgelöst wird und bei der wir uns dann fragen: „Redet sich auch irgendwann mal wieder mit ihren armen alten Eltern?“

Akut ist die Phase der Redeflut. Sicher waren wir mit unserem Kind in seinen ersten Lebensmonaten zu oft am Wasser. Vielleicht kennen Sie den schönen französischen Film von Étienne Chatiliez mit dem schönen Titel „Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss“ ein. Oder, etwas abgewandelt: Das Leben ist ein langer Redefluss. In dem Film geht es um zwei nach der Geburt in der Klinik vertauschte Säuglinge. Das wäre natürlich auch eine Erklärung...

Da Eltern bekanntlich nicht lernen aus der Geschichte, sind wir immer noch ziemlich oft mit den Kindern am Wasser, am Meer. Ja, wir wohnen sogar am Meer. Und weil wir am Meer wohnen, bekommen wir auch gelegentlich Besuch von Freunden, die das irgendwie Angenehme (Meer, Strand, Sand, Sonne) mit dem irgendwie Notwendigen (Besuch bei uns) verbinden.

So hat das Kind vorübergehend noch eine große Schwester bekommen, wenigstens für eine Woche: Mein Patenkind ist zu Besuch. Meine Lütte ist schwer begeistert und versucht umgehend, dieses große und quasi erwachsene Kind mit Beschlag zu belegen.

Da sind zuerst einige der üblichen Nahkämpfe einer Fünfjährigen zu bestehen, die bereits außerhalb der Fassungskraft einer Neunjährigen liegen: „Das ist MEINE Schaufel!!“ Beide Schaufeln sind blau, beide wurden soeben im selben Laden für denselben Strandausflug zum selben Preis erworben. „Das ist MEINE Schaufel!“ Die Neunjährige zuckt mit den Schultern. „Und das ist mein Luftballon!! Den gibst du mir nachher wieder!! Ich leih dir den aber nur!!“

Sicher auch nur eine Phase. Alles nur eine Phase. Phasen des Zu-viel-und-zu-laut-redens. Phasen des Alles-irgendwie-runterschmeißens (eine Phase, die ab und an noch mal wieder aufflackert). Phasen des Schmusens und Phasen des Trotzes: „Dann bin ich eben GAR nicht mehr dein Kind!!“ Phasen des Schweigens. Phasen des Tobens. Und – oh mein Gott! – Phasen des Bastelns.

Noch viele Phasen werden kommen, dieses kleine Leben hat ja gerade erst angefangen. Phasen der Schulfreuden und der Schulängste. Phasen des Verliebtseins und des Liebeskummers. Weitere Phasen des Trotzes und weitere Phasen des Redens. Ja, so wird es sein. Unabwendbar.

So sehr die Eltern kleiner Kinder genervt sein können von Phasen des Dauerredens, des Runterschmeißens, des Trotzes, so hinreißend sind wiederum die Schmusephasen, die schelmischen Ich-grins-dich-an-und-krieg-dich-rum-und-also-NOCH-ein-Eis-Phasen, ja, und auch die Bastelphasen. Die einen Phasen gibt es nicht ohne die anderen.

Und wissen Sie was? Und ich möchte keine einzige Phase missen!

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