Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge fünfundneunzig
So ist dein Leben!

So ein altes Pastorat hat dicke Mauern und also tiefe Fenster und also große Fensterbänke, die dazu einladen, mit allerlei Zeugs beladen zu werden. Und wenn einer dann in der Küche ganz schnell etwas ablegen muss, kann es in seltenen Ausnahmefällen passieren, dass einer schnell und vorübergehend eine leere Käseverpackung auf die Fensterbank legt.

Da ist das Kind aber zur Stelle und tönt: „So ist dein Leben!! Einfach mal den Müll auf die Fensterbank legen!! Zum Schmuck, natürlich!!“ Das ist, klar, ein geflügeltes Wort geworden bei uns und Spruch des Jahres sowieso.

„So ist dein Leben!!“ Wie aber sieht unser Leben also tatsächlich aus? Mit Müll auf der Fensterbank oder Schmuck? Wir machen eine Bestandsaufnahme dieses unseres Lebens. Von links nach rechts:

Ein undefinierbarer Keramiktopf mit Trockenblumen, ein Bernhardiner aus Holz, ein Stein, ein weißer Topf mit einem Gewächs mit weißen Blüten, teilweise vertrocknet, ein roter Topf mit einem Gewächs mit rosa Blüten, teilweise blühend, zerbügelte Bügelperlen, ein Anstecker aus dem Multimar Wattforum, ein Kaktus in einem beigefarbenen Kaffeebecher mit naiven Motiven, eine Streichholzschachtel, vier Muscheln vom Strand, eine kleine Mundharmonika, ein bunt geringeltes Müslischälchen mit einem Töpfchen halbvertrockneter Basilikumstängel, ein Henkeltopf als Gießkanne, mit Hühnern drauf (knochentrocken), ein blauer Puppensitz, den man an den Lenker des Kinderfahrrades klemmen kann, drei bemalte mittelgroße Steine, eine Kinderbecherlupe, zwei gebastelte, gemalte, mit Mama laminierte Sets, eine einfache Schale mit vielen Steinen und zwei Papierhühnern, ein gebasteltes Stirnband, wie es die Pferde haben zur Abwehr der Fliegen von den Augen (hier aber aus Papier, nicht aus Leder), der Blechdeckel einer Lillifeeblechdose in Herzform (ohne die Dose), ein Plastikdeckel, vier gemalte Bilder, der Deckel eines Schuhkartons, randvoll mit Stiften, eine Plastikdose mit Schnipseln, ein Papierfaltboot, ein Filzschreiber, ein Papierfähnchen der vorletzten Kirchengemeindeveranstaltung, ein violetter Luftballon, nicht aufgeblasen, diverse Stoffbänder in blau und weiß, ein Kiefernzapfen, fünf Bierdeckeln (nicht von mir!), beklebt mit Aufklebern, ein Stück Paketband mit einer kleinen am Ende aufgefädelten blauen Plastikperle, ein Pappbecherchen mit zerstampften Blättern und zerstampften Muscheln und einem Plastiklöffel darin (Frühstück für Teddy), ein Lillifeekaleidoskop, ein großer Plastikbecher mit feucht gewordenen Straßenpflasterkreiden, ein Tischgebetswürfel, eine Haarbürste.

Die diversen angetrockneten Blümchen gehen klar auf die elterliche Kappe, die eingangs erwähnte Käseverpackung wurde zwischenzeitlich entfernt. Alles andere ist mehr oder weniger Kleinkindgerümpel!

Der Ganzlütte kann noch nicht mal greifen, geschweige denn basteln. Aber er wird es eines Tages können, und dann brauchen seine Materialien und Werkzeuge und Kunstwerke auch Ablageflächen. Deshalb gehe ich vorsorglich durchs ganze Haus und betrachte sämtliche Fensterbänke. Fazit: Mit Ausnahme von einer Fensterbank im Gästezimmer und einer im Arbeitszimmer liegt auf allen mehr oder weniger viel Kleinkindgerümpel! „Zum Schmuck, natürlich!!“

Mir scheint, Kinder sind irgendwie vereinnahmend. Ja, so ist mein Leben!

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