Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge siebenundneunzig
Große Schwester am Meer

Nun sind wir natürlich immer irgendwie am Meer, weil wir ja am Meer wohnen oder doch sehr dicht dran: Zwar sind zwischen dem Wasser und uns noch der große Deich und der kleine Deich, doch Sturmflutwarnungen hören wir schon mit anderen Ohren an als Sie zum Beispiel.

Weil wir nun aber am Meer wohnen, bekommen wir gelegentlich Besuch von Freunden, die das irgendwie Angenehme (Meer, Strand, Sand, Sonne) mit dem irgendwie Notwendigen (Besuch bei uns) verbinden. Und bevor der Herbst jetzt endgültig Einzug hält und wir die Sommersachen in die Altkleidersammlung geben, erinnern wir uns der – wenigen – sonnigen Tage, die wir in diesem Sommer hatten.

Da haben wir zum Beispiel Besuch von lieben Menschen, die – siehe oben – das Angenehme mit dem Notwendigen verbinden. Und es ergibt sich, dass das Kind zum kleinen Bruder auch noch eine große Schwester bekommt, wenigstens für diese eine Woche: Mein Patenkind ist zu Besuch! Meine Große, neben einer Neunjährigen mit einem Mal wieder meine Lütte, ist schwer begeistert und versucht umgehend, dieses quasi erwachsene Schulkind mit Beschlag zu belegen.

Da sind zuerst einige der üblichen Nahkämpfen einer jeden Fünfjährigen zu bestehen, die bereits weit außerhalb der Fassungskraft einer Neunjährigen liegen: „Das ist MEINE Schaufel!!“ Wobei anzumerken ist, dass beide Schaufeln dort im Sand völlig gleich sind: beide blau, beide am selben Tag im selben Laden für denselben Strandausflug zum selben Preis erworben. „Das ist MEINE Schaufel!“ Eine Neunjährige zuckt mit den Schultern und greift zur anderen.

Dann geht’s ans Teilen der Dinge, die nicht doppelt vorhanden sind. Im Kindergarten sind unsere Lütten ja mehr oder weniger unter sich, auf Augenhöhe. Der Blick zu einer Neunjährigen geht aber nach oben, und das Teilen mit einer Großen ist schon etwas speziell: Ein fünfjähriges Kind weiß genau, dass ein neunjähriges Kind körperlich und geistig in jedem Vorteil ist und – bei aller Freundschaft – einfach tun kann, was sie tun will, und sich nehmen kann, was sie sich nehmen will. Es kommt also auf die Formulierungskunst an. „Das ist aber mein Luftballon!!“ „Ich leih dir den nur!!“ „Den gibst du mir wieder, bevor du wegfährst!!“ Die Neunjährige zuckt mit den Schultern.

Wir Erwachsenen nippen an unserem Kaffee und finden das alles recht spannend und unterhaltsam. Es ist ein bisschen wie im Theater (mein Gott, wann war ich zuletzt im Theater?) und zugleich ist es ein Blick in die Zukunft! Der Altersabstand zwischen den beiden Kontrahenten ist fast genauso groß wie der zwischen dem Kind und unserem Ganzlütten. Wenn das Kind so alt ist wie mein Patenkind jetzt, ist der Ganzlütte fünf. In Folge 296 dieser Kolumne werden Sie dann also von den üblichen Nahkämpfen eines jeden Fünfjährigen lesen können, Nahkämpfe, die bereits weit außerhalb der Fassungskraft meiner Neunjährigen liegen. Oh, ich freue mich schon drauf!

Doch jetzt ist mein Kind erst fünf Jahre alt, und da ist immer noch diese faszinierende Große. Und dann macht das Kind seine ganz spezielle Entdeckung: „Du redest so wenig!!“

Ich darf anmerken, dass mein Patenkind natürlich ganz normal viel redet.

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