Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge neunundneunzig
Das Formular

Letzte Woche lasen Sie hier von meinen Bemühungen ums Kindergeld für den Ganzlütten. Und nach dem amüsanten telefonischen Stafettenlauf durch diverse Ämter und Behörde hielt ich das geldfördernde Formular zwar noch nicht in den Händen, hatte es aber immerhin auf dem Bildschirm meines Computers. Doch leider war ja der Drucker kaputt.

Ich schicke mich jetzt also an und los, einen Drucker zu kaufen: Ziehe meine Jacke an und ziehe dem Kind eine Jacke an und öffne die Tür. „Papa!! Teddy muss mit!!“ „Aber wir wollen doch nur kurz...!?“ „Papa...!!“ Kleine Pause, großes Rumpeln. „Papa, ich kann Teddy nicht finden!!“ „Wir wollen ja auch nur kurz...!?“ „Papa!! Teddy MUSS mit!!“ Ich suche Teddy, ich finde Teddy, ich öffne die Tür. „Papa!! Ich MUSS mal!!“ Nee, schon klar, kein Problem.

Eine halbe Stunde später sitzen wir im Auto und tuckern in die nächste Kleinstadt auf der Jagd nach einem Drucker.

Ich darf beiläufig erwähnen, dass Hinfahrt, Auswahl, Kauf und Rückfahrt weniger Zeit in Anspruch genommen haben als die vorbereitenden Maßnahmen und Teddysucherei und so weiter. Und noch viel beiläufiger darf ich erwähnen, dass ein guter alltagstauglicher Drucker weniger Geld kostet als das Paar Kinderschuhe der Größe 31, das wir bei der Gelegenheit nebenan auch gleich noch gekauft haben.

Nun steht er da, der Drucker, und nach einiger Diskussion mit diversen Bedienungsanleitungen und Kabeln und Programmhilfen kann tatsächlich eine tadellose Testseite ausgedruckt werden. Und danach sogar ein tadelloses Kindergeldantragsformular. Ich greife also zum Kugelschreiber, die Tür klappt, „Papa, was machst du da??“ „Ich fülle ein Formular aus.“ „Ich will auch ein Formular ausfüllen!!“

Ja, so fängt es an. Ich lege den Kugelschreiber beiseite und öffne das weltweite Web und gebe als Stichwort Malvorlagen ein, das Kind wählt einige Vorlagen. Ich drucke sie aus, tadellos. Ich greife wieder zum Kugelschreiber, mein Kindergeldantragsformular auszufüllen, das Kind setzt sich mir gegenüber, steckt die Zunge zwischen die Zähne und greift zu seinen Buntstiften.

Ich betrachte das Kind und komme ins Grübeln. Was macht es da? Es füllt ein Formular aus. Einfach so!? Ich fülle mein Formular aus, weil es notwendig ist, um ans Kindergeld zu kommen. Das Kind aber füllt sein Formular aus ohne Grund. Einfach nur, weil das Formular ein Formular ist. Weil das Formular IST. Weil das Formular dem Kind sagt: Fülle mich aus!

Macht dem Kind das Spaß? Offenbar ja. Finde ich es bedenklich, dass es dem Kind Spaß macht, wenn ein Blatt Papier sagt: Male hier dieses und dort jenes? Offenbar ja. Denn ist der Mensch Diener von Formularen? Muss ein Kind Diener von Formularen sein? Immerhin ist die Lokomotive, die das Kind ausgemalt hat, rosa.

Ein Leben nach Formularen, nach Vorlagen, nach Vorgaben, die ersten Schritte zu einem mündigen Bürger? Eher zu einem folgsamen Bürger. Also zum Bürger eines Obrigkeitsstaates. Will ich das?

Nein, das will ich nicht. „Papa, ich bin fertig!! Kannst du mir noch mehr Vorlagen ausdrucken??“ „Nein, das kann ich nicht.“ Und ich reiche dem Kind Papier. Viele Blätter, ganz leer, ganz weiß. Und das Kind steckt die Zunge zwischen die Zähne und greift zu seinen Buntstiften.

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