Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundfünfundzwanzig
Berufsziel: Trageberater

 

Nach einer anstrengenden Kindergartenwoche und einem ganz besonders anstrengenden Kindergartenfreitag stelle ich mich vor dem Feuerwehrhaus exakt an der Stelle auf, an der sich die Türen des Kindergartenbusses zischend öffnen werden. Denn meine große Sechsjährige wird nicht aus dem Bus steigen, sie wird aus dem Bus fallen, freitäglich eben, todmüde. Und ich passe auf, dass sie nicht aufs Pflaster knallt. Schlimm genug, dass Teddy aufs Pflaster knallt. Noch im Fallen ruft mein großes kleines Kind: „Papa!! Arm!!“ Und manchmal trage ich sie dann tatsächlich den ganzen Weg nach Hause, was zwar vom Körpergewicht her eine gewisse Herausforderung darstellt, aber es ist Freitag. Und es ist schön, ein Kind auf dem Arm zu tragen.

Natürlich habe ich das Kind damals, als es ein kleines Kleinkind war, genauso herumgetragen wie heute den Ganzlütten. Ja, wir sind sogar einmal ins Fernsehen gekommen! Anfang des Jahrhunderts war es wohl noch speziell, wenn Mann allein mit einem Baby durch die Heide stapft. Wobei, ich stapfte, das Kind schaukelte hinter mir in der Rückentrage. Wir stapften und schaukelten also und betrachteten die Landschaft und die darin enthaltenen Lerchen, als plötzlich eine Kamera aus dem Gebüsch zu uns getragen wurde. Das Kind guckte großäugig über meine Schulter, ich beantwortete zwei oder drei Fragen nach dem Woher und Wohin und wie toll das wohl sei, so als Vater mit Kind. Drei Tage später riefen längst verstorben geglaubte ferne Familienmitglieder bei uns an: Man habe uns im Fernsehen gesehen, ei, wie süß! Ja, schön, dass ihr euch mal meldet ...

Auch der Ganzlütte wird natürlich getragen. Was allein daran liegt, dass es nicht mehr nötig ist! Er ist nämlich mittlerweile reichlich mobil und krabbelt, was das Zeug hält. Natürlich dahin, wohin er eher nicht soll: Hundetrinknapf, Kloputzzeugeimer, halb offene Geschirrspülmaschine. Und leider hat er auch schon herausgefunden, wie man den Kühlschrank öffnet. Im Wohnzimmer räumt er gerne reihenweise Bücher aus den Regalen, was nicht so schlimm wäre, wenn da nicht noch die fünf bereits gestern ausgeräumten Reihen am Boden lägen, weil ich beim abendlichen Versuch, sie einzusortieren, auf dem Haufen beinahe eingeschlafen bin.

Jedenfalls, weil er so mobil ist, muss ich ihn ab und an an den Trägern der Latzhose packen, dann schwebt er durch die Luft und landet elegant auf meinem Arm. Trage ich das Kind, gerät es zumindest nicht in die Spülmaschine.

Kurz: Die Kinder werden immer wieder getragen, beim Heidestapfen oder weil es an der Tür geklingelt hat und die Spülmaschine offen steht. Nun weiß ich aber seit kurzem, dass ich eine Menge falsch mache! Da las ich doch vor ein paar Tagen in der Zeitung die folgende Notiz:

„Tragen – wird das Kind dadurch verwöhnt? Diese Frage stellen sich viele Eltern, wenn sie ihr Baby in den Armen halten. Monika C. ist Trageberaterin und wird bei einem Infoabend der Volkshochschule B. über die Thematik sprechen.“ Es folgte noch der Termin, ich hatte allerdings an dem Abend keine Zeit, schließlich habe ich ja kleine Kinder zu versorgen. Und, um ehrlich zu sein, ich habe mich noch nie gefragt, ob ich mein Kind verwöhne, wenn ich es in den Armen halte. Was für eine schwer seltsame Frage!

Nun aber habe ich ein neues Berufsziel – ich werde auch Trageberater! Doch dazu später mehr ...

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