Rainer Kolbe - Das Kind

 

176 Geschwister eben

Wir haben in der letzten Folge 175 gelesen, wie das Kind mit seiner Freundin Nunu unterwegs ist und lachend und jubelnd durch den Nachmittag zieht – randvolle Gummistiefel. Nunu ist des Kindes große Liebe, mit der es gerne seine Zeit verbringt. Aber noch viel mehr Zeit verbringt das Kind ja mit dem Ganzlütten, denn das ist nun mal der unabwendbare kleine Bruder. Wie verhält es sich da mit der Liebe?

Es ist erstaunlich, wie sehr Geschwister einander lieben können, ohne es zu merken oder auch nur zu wissen! Wir sind draußen, im Garten. Der Ganzlütte versucht, auf kurzen Beinen seiner galoppierenden Schwester zu folgen, knallt hin auf dem Plattenweg, dass es nur so kracht – und die Schwester bricht in Tränen aus. Der Ganzlütte rappelt sich auf und ist überrascht: „Wester weint!!“ Ja, deine Schwester weint. Aber warum? Weil sie dich lieb hat.

Blut und Schorf, Husten und Schnupfen – kranke Kinder sind DAS Thema auf dem Spielplatz und beim elterlichen Flurgespräch im Kindergarten oder in der Schule. Sammelt man seine eigenen Erfahrungen zusammen und hört sich ein wenig im Freundes- und Bekanntenkreis um, so kommt einiges zusammen. Da sind die diverse Grippen und Röteln und Masern. Nächtliche Hustenattacken ohne Ende. Zahnungsschmerzen und fünfundzwanzig Mückenstiche in einer Nacht, Fieberkrämpfe und Krebs. Aufenthalte in richtigen Krankenhäusern, richtig eklige Medikamente und richtig tapfere Kinder. An Magen-Darm-Infektionen nimmt der Rest der Familie gerne Anteil, vom für die dann kranken Eltern anstrengende Genesungsprozess der Kinder mittels Memory 116 ganz zu schweigen. Und es gibt aufgeschürfte Knie und zu Tränen rührenden Beinahe-Verletzungen. Und all das wird begleitet von der Liebe der Geschwister.

Neulich haben wir es wieder einmal vorgeführt bekommen. Der Ganzlütte war schon im Kindergarten das erste Mal hingeknallt, die Unterlippe leicht lädiert. Leider stürzte er in seinem Eifer beim nachmittäglichen Einkauf erneut, mit der Lippe voran direkt in einen Fahrradständer. Das Blut floss, der Ganzlütte – der ja recht hart im Nehmen ist, siehe oben – weinte sogar. Wir beendeten den Einkauf an dieser Stelle lieber und organisierten sämtliche Jackentaschentücher, um Einhalt zu gebieten. Das gelang, aber die Lippe sah nun doch so aus, als ob besser ein Fachmensch darauf sehen sollte. Flugs brausten wir in die nächste Kleinstadt zum Kinderarzt. „Bin im Urlaub!“ Na prima. Nebenbei: Es gibt im Umkreis von einer Dreiviertelstunde Autofahrt nur diesen einen Kinderarzt. Beim nächstbesten Normalarzt mussten wir dann im übervollen Wartezimmer nur eine Stunde warten... „Oh, das muss genäht werden, das kann ich nicht, fahren Sie ins Krankenhaus!“ Danke für den Tipp.

Also alle wieder ins Auto, also alle Richtung Kreisstadt. Erstaunlicherweise war das Wartezimmer in der Notaufnahme des Krankenhauses nicht übervoll, vielleicht lag es daran, dass es mittlerweile Abend geworden war. Jedenfalls mussten wir nur ein bisschen warten. „Ah, nö, das muss nicht genäht werden, das heilt so, fahren Sie wieder nach Hause!“ Danke für den Tipp.

Zwei Ärzte, zwei Diagnosen. Was wohl ein dritter Arzt gesagt hätte? Nun, wir sind wieder nach Hause gefahren und die Lippe ist tatsächlich auch ziemlich gut wieder zusammengewachsen.

Warum ich das erzähle? Weil mir dieser Nachmittag gezeigt hat, wie mitfühlend und liebevoll ein großes kleines Mädchen auf seinen ganz kleinen Bruder sehen kann. Hilfreich beim Taschentüchersuchen, geduldig trotz eines versauten Nachmittags, mitleidend bei der Vorstellung des Nähens, erleichtert bei der Nachricht des Nichtnähenmüssens. Wie sehr Geschwister einander lieben können!

Hoffentlich bleibt das so.

laden
start