Rainer Kolbe - Das Kind
198 Die Villa Seit kurzem haben nicht nur wir, sondern auch der Bollerwagen, die Fahrräder und das Auto ein neues Zuhause: eine Garage. Die ist an sich schon mal nicht schlecht und durchaus interessant, aber so richtig spannend wird es für ein Kind natürlich erst hinter der Garage. Dort steht auch die Villa Karoline. Die Villa Karoline ist keine Villa, wie Sie sie sich vielleicht erträumen, mit Säulen am Eingang und Intarsien, vier Schlafzimmern und sechs Bädern oder so, sondern ein Ort des Spiels. Das Kind spielt hier Apotheke und mischt aus Sand und Wasser, Gras und Blütenblättern Medikamente. Die werden verabreicht, wenn ich mich gestoßen habe oder geschnitten. Dazu singt es kräftig bis lautstark, und mir scheint seit Wochen, das Kind kenne nur noch dieses eine Lied: „In der Villa Karoline wächst am Boden Gras und Klee, und ein alter Autoreifen dient darin als Kanapee.“ Ja, der Autoreifen fehlt nicht, er lag in der Garage beim Einzug, wohl vergessen vom Vormieter, wohl wartend auf ein Kind. Es hat den Reifen hinter die Garage geschleppt, und wenn das Wetter schön ist, so sitzt es darin und ruht sich aus von der Schule oder dem kleinen Bruder. „In der Villa Karoline lebt man glücklich, lebt man nett, denn man geht dort mit den Schuhen in das Autoreifenbett.“ Der Text des Liedes ist ganz nach dem Geschmack eines Kindes, das Fan ist von Pipi Langstrumpf ist. Villa Kunterbunt, Villa Karoline. „In der Villa Karoline kocht man auf der Gartenbank, und die große Eierkiste wird gebraucht als Küchenschrank.“ Ganz folgerichtig steht hinter der Garage auch eine alte, marode Gartenbank, auf der das Kind kocht. Denn das Kind ist ja nicht nur Apothekerin, sondern auch Köchin und Kellnerin. „In der Villa Karoline gibt es Löwenzahnsalat, den die Hausfrau mit dem feinsten Fahrradöl begossen hat.“ Das Kind spielt hier gerne für sich allein, ist Bandenchefin und denkt sich andere Kinder aus, „die machen alles richtig und haben nicht so einen dicken Kopf wie mein kleine Bruder.“ Da kommt er gerade um die Ecke, der Ganzlütte. Was seine Schwester macht, macht er auch. Die Spiele, die sie spielt, spielt er auch. Die Lieder, die sie singt, singt er auch. Kräftig bis lautstark: „In der Villa Kaloline wächst amoden Grasun Klee, un ein alda audoreifn dient darin al Kanapee!!“ Am schönsten ist das Spielen in der Villa, „wenn ich gut gelaunt bin, die Sonne scheint und keiner schimpft und keiner sagt, kannst du dies machen, kannst du das machen!!“ Wie zufällig ist die Villa Karoline vom Haus aus nicht einzusehen, auch nicht vom Küchenfenster aus. Das Kind genießt es, außer Blick- und Reichweite zu sein. Wenn ich also etwas will vom Kind, muss ich mich schon hinter die Garage bemühen. Dort aber werde ich meist sehr freundlich begrüßt, „Papa!! Das Essen ist fertig!!“, und ich vergesse mein eigentliches Anliegen, genieße den herrlichen Salat und darf auch vom Mousse au Chocolat probieren. Woraus aber ist die Villa Karoline erbaut? Vielleicht möchte sie ja jemand nachbauen, für seine eigenen Kinder oder für die Enkel? Die Villa Karoline besteht aus der maroden Gartenbank und aus den Resten eines von mir zersägten Ikea-Regals, aus zwei jeweils anderthalb Meter Eisenstäben, zwei mittelgroßen Holzplatten und einigen Leisten, zwei alte Deckenlampen unseres Vormieters sowie einem selbst gebastelten Verbotsschild, „damit Fremde so wie du mir hier nichts wegnehmen!!“ Könnten Sie aus all diesen Dingen etwas bauen, gar eine Villa? Nein, das könnten Sie nicht. Der kindlichen Phantasie aber sind keine Grenzen gesetzt. „In der Villa Karoline ist es leider ziemlich klein, aber nirgends kann es hübscher als in dieser Villa sein!“ |