Rainer Kolbe - Das Kind

 

206 Lexikon einer sentimentalen Reise

Die Ferien sind vorbei, meine Erinnerungen an die Ostsee verblassen. Und des Kindes Erinnerungen an Berlin sind nicht mehr so dominant, dass sie fortwährend Erwähnung finden. Der Alltag ist nämlich anders.

Abends sitze ich am Tisch bei einem Glase, im Haus ist es still: Die Lieblingspastorin sitzt an den Vorbereitungen ihres Gottesdienstes, der Hund döst in seiner müffigen Kiste, die Kinder schlafen friedlich. Und ich bin müde.

Ich überlege bei mir, was ich in der letzten Woche eigentlich gemacht habe? Was war in den letzten Tagen? War da was? War es Alltag und Trott, nicht mehr als ein erwachsenes Funktionieren? Ich greife mir den Kalender von der Fensterbank und blättere darin.

Ich blättere vor und zurück, sehr viel muss ich nicht blättern, als hauptamtlicher Papa hat man ja eher kaum Termine: Vor einer Woche hatte ich ein Gespräch mit dem Friedhofsverwalter, ich wollte einen Text schreiben für eine Kirchenzeitung über unseren schönen Friedhof im Wald. Habe ich dann übrigens auch gemacht. Einen Tag später war mein Kolumnenbeitrag fällig. Vor fünf Tagen wurde die Lieblingspastorin offiziell in ihr Amt in dieser Gemeinde eingeführt, da war natürlich einiges zu organisieren und zu bedenken und zu essen und zu trinken. Und vor drei Tagen habe ich bei einer Familie im übernächsten Dorf einen Kaufmannsladen besichtigt und erworben, die hatten einen Aushang beim Höker, günstige Gelegenheit. Mehr aber geben Kalender und Erinnerung nicht her. Warum eigentlich bin ich müde?

Da erhebt sich der Hund aus seiner müffigen Kiste, schüttelt sich ausgiebig und, entschuldigen Sie bitte, kotzt aus dem Stand aufs Parkett.

Die Freude ist groß! Zuerst ist da die Freude, dass es unserem schon ziemlich alten Hund ganz offensichtlich gut geht und er normale körperliche Reaktionen zeigt, wenn er in Nachbars Garten etwas ganz offensichtlich Unverdauliches verschlungen hat. Sodann ist da die Freude, dass der Hund seine normalen körperlichen Reaktionen nicht des nachts zeigt, was den frühen Morgen nicht schöner macht als er ohnehin schon ist. Und dann freut man sich, dass man im Hausflur keinen Teppichboden hat. Wenn man Hund und Kinder hat, hat man sowieso nirgendwo Teppichboden, sondern Holz und PVC rumliegen, auf dem man problemlos wischen kann.

Ich entsorge die Hinterlassenschaften problemlos und biete dem Hund den Garten an für den Fall, dass er noch ganz andere Bedürfnisse zu entsorgen hat, doch der winkt ab, klar, draußen nieselt es ja auch. Also setze ich mich wieder an den Tisch, trinke noch einen Schluck aus dem Glase und greife zu einem der zufällig auf dem Tisch herumstapelnden Romane: „Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden“. Wer denkt sich solche Titel aus? Und kann man jemals wach genug sein, um Romane zu lesen, die solche Titel tragen? Ich betrachte den Bücherstapel genauer: „Die Tugend die Trauer das Warten die Komik.“ „Die Unperfekten.“ „Die Unvollendeten.“ „Wie man leben soll.“ Wo bin ich hier denn eigentlich?

Ich schlage das Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen auf, will herausfinden, was mir der Künstler sagen will. Da höre ich oben eine Tür klappen und leise Schritte die Treppe herab tappen. Das Kind schlängelt sich auf meinen Schoß, es könne überhaupt gar nicht einschlafen, es läge seit Stunden schon wach, ich müsse es trösten, es wolle kuscheln. Also kuscheln wir, und ich tröste, wir plaudern ein wenig und schmusen, und irgendwann kann ich das Kind wieder ins Bett bringen, es dreht sich zur Wand, und als ich zur Tür hinaus schleiche, höre ich es schon leise schnarchen.

Ich setze mich wieder an den Tisch, eine Neige ist noch im Glase, ich starre das Lexikon einer sentimentalen Reise an.

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