Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge siebenundvierzig
Proust

Neulich wurde mir mal wieder so richtig klar, wie erfüllt die Zeit mit einem Kind doch sein kann. Wir sitzen am Abendbrotstisch und meine Lieblingspastorin fragt interessiert: „Was habt ihr heute Nachmittag gemacht?“ „Wir haben die Meerschweinchen gefüttert.“ „Ah ja. Und sonst?“ „Nö, mehr Zeit hatten wir nicht.“ Wie kann das sein, wie geht das zu? Das geht so zu:

Es ist ein schöner milder Herbsttag. Das Kind und ich sitzen im Garten, das Kind schlürft Saft, ich nippe am Kaffee, der Hund döst, die Sonne wärmt, zwei Schmetterlinge gaukeln. Da springt das Kind vom Stühlchen: „Papa, ich will die Meerschweinchen füttern!!“ Welch’ Vater würde da nicht frohlocken: Das Kind übernimmt Verantwortung! Freiwillig und ganz ohne Prügel! So soll es sein, und sehr viel später wird es auch für den Rest der Viecher Verantwortung übernehmen und für den Rest der Welt und die alternden Eltern auch.

Jetzt aber springt es erst mal auf (das Stühlchen fällt dabei um, das Glas mit Saft erstaunlicherweise nicht), stapft zum Meerschweinchenstall, öffnet die Klappe und greift sich das kleine Porzellanschälchen. (Kenner wissen, was jetzt kommt. Halten Sie kurz inne in der Lektüre und machen Sie den Test: Was passiert in den kommenden anderthalb Stunden?)

Das Kind wendet, stolpert über den dösenden Hund und fällt in einen feuchten Maulwurfshaufen. Hose und T-Shirt waren heute morgen annähernd frisch. Das Kind rappelt sich hoch, steigt über den weiter dösenden Hund und stapft zur Küchentüre. Zieht sich an der Schwelle die Gummistiefel aus (toll, nicht?, auch ohne Prügel!) und verschwindet. Anderthalb Minuten hört man gar nichts, dann hört man Scheppern, Klirren, Rieseln und Weinen. Das Scheppern gehört zur großen, bis eben recht vollen Dose mit Glück-plus-Kraft-plus-glänzendes-Fell-Futter, das Klirren gehört zum finalen Ende des Porzellanschälchens, das Rieseln gehört zum weiteren Verbleib des Glück-plus-Futters und das Weinen gehört zum Kind.

Ich springe auf (der Stuhl fällt um, der Becher mit Kaffee erstaunlicherweise nicht), laufe in die Küche, tröste das Kind, suche ein neues Schälchen (aus Kunststoff, klar, ich bin doch nicht blöd!), befülle es mit dem Rest Glück-plus-Futter, der noch in der Dose war, und schicke das Kind zu den Schweinchen. Während ich anfange, das ausgestreute Futter zusammenzufegen, zieht sich das Kind die Gummistiefel wieder an und stapft in den Garten, fällt über den dösenden Hund und bei dem engagierten Versuch, nicht auch noch den Rest des Glück-plus-Futters zu verschütten, gleich mit beiden Händen und beiden Ohren in den zweiten Maulwurfshaufen. Immerhin hat der Hund bei dieser neuerlichen Störung die linke Braue gehoben, er lebt also noch.

Ich springe in den Garten, tröste das Kind, reiche den Meerschweinchen ihr Glück, führe das Kind ins Haus, entkleide es und stelle es unter die Dusche, fege die Küche zu Ende und befülle die Waschmaschine (während das Kind das Badezimmer badet), seife das Kind ab, trockne es, kleide es und wische abschließend das Badezimmer.

Nein, nicht abschließend. Denn in der Zwischenzeit hat der Hund Witterung aufgenommen und fein säuberlich den nach Glück duftenden Küchenfußboden abgeschlabbert. Also wische ich auch noch mal eben den Küchenfußboden.

„Und sonst?“ „Nö, mehr Zeit hatten wir nicht.“

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