Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

Folge siebzehn
Papa – ein Fall fürs Museum

Über den Tod stand in dieser kleinen Reihe schon einiges zu lesen – Folge zwei widmete sich dem Tod und dem Himmel, Folge fünfzehn widmete sich sogar dem Töten. Vor dem Tod aber kommt aber meist nicht das Getötetwerden, sondern das Älterwerden.

Der Vater des Kindes wurde unlängst so ungefähr vierzig Jahre alt, und die Vierjährige hat schnell aufgeschnappt, dass Papa jetzt genau zehnmal so alt ist wie sie selbst. Ich werde einige Mühe haben, ihr diese simple Mathematik wieder auszureden, wenn sie Ende des Jahres eine Fünfjährige wird und ich dann keineswegs zehnmal so alt sein werde. Vielleicht werde ich mich so fühlen, und manchmal, im schlimmsten Fall, auch so aussehen. Aber nicht so sein.

Wie alt ein Vater aber sein kann aus der Sicht eines kleinen Kindes, das erfuhr ich vor einigen Tagen beim abendlichen Zähneputzen. Da entspann sich ein kleiner Dialog. Er lautete genau so:

Papa: „Nun mach mal hinne, ich bin auch müde.“ Kind: „Warum?“ Papa: „Ich bin ja ein alter Papa.“ Kind: „Dann kommst du ins Museum?! Mama und ich gehen dann ins Museum und gucken dich an!“ Papa: „Wenn ich ins Museum komme, dann kommt Mama auch ins Museum.“ Kind: „Ich auch! Ich auch! Wir stehen dann da und die Leute gucken uns an und wir rühren den Teig und backen Kuchen!“ Ist das nicht schön? Völlig sinnfrei, aber irgendwie rührend und, natürlich, essbar. Weshalb wir dann wieder Zähne putzen müssen und so fort.

Dass es auch anders geht, weniger rührend, sondern eher etwas grobschlächtig, das wurde mir zwei Tage darauf klargemacht. Und dabei wurde mir auch klar, dass die Grenzen zwischen Leben und Alter und Tod fließend sein können. Sie sind nicht so klar und schwarzweiß, wie wir Erwachsene uns das der Einfachheit halber vorstellen.

Das Kind und ich lustwandelten durch die Gassen einer nahe gelegenen Kleinstadt, und eine Vierjährige kann einen zehnmal so alten Papa noch nicht abhängen, jedenfalls nicht zu Fuß, eine zwanzigmal so alte Dame aber möglicherweise schon. Vor uns in der Gasse war ein Mütterchen unterwegs und schob ihr Gehwägelchen vor sich her oder wurde von diesem gezogen, das war nicht klar zu erkennen. Das Mütterchen hörte unüberhörbares Geschwätz hinter sich und wendete das greise Haupt, sah das Kind und seinen Papa und lächelte mild. Und sie tat einen Schub und einen Schritt an die Seite, um das Kind und seinen Papa vorbeizulassen.

Wir waren maximal zwei Meter und fünfzig Zentimeter an der Dame vorbei, als das Kind leider in ganz normaler Lautstärke und also zu laut zu mir sagte: „Papa, ich hab’ nicht gedacht, dass die noch lebt!!“ Erschrocken frage ich nach: „Warum das denn nicht?! Die Frau hat sich doch noch bewegt!“ Darauf das Kind: „Ja, aber die war schon so alt!!“

Beim vierten Nachdenken über diesen Ausspruch finde ich ihn nicht mehr ganz so grobschlächtig: Wir werden älter, wir leben noch, sind aber ein wenig dichter dran. Ein bisschen tot schon im Sinne: ein bisschen näher am Himmelreich und an Gott. Gott allein weiß, wie dicht wir dran sind, am Tod und an ihm.

Doch trotz dieses sinnhaften vierten Nachdenkens hoffe ich, dass die alte Dame auch ein wenig schwerhörig war.

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