Rainer Kolbe - Das Kind

 

184 Regression

Regression nennt man einen psychischen Abwehrmechanismus: den vorübergehenden Rückzug auf eine frühere Stufe der Persönlichkeitsentwicklung mit einfacheren, primitiveren Reaktionen und geringerem Anspruch. Soweit die Theorie. Und in echt?

Die Welten unserer beiden Kinder liegen mehr als fünf Jahre auseinander. Das ist mitunter lästig, weil ich das Gefühl habe, aus dem Windelwechseln seit Jahre nicht mehr herauszukommen. Aber es ist auch praktisch, denn die beiden konkurrieren nie um das gleiche Spielzeug. Dachten wir bis neulich.

Neulich holten wir die alte Kiste mit dem Kleinkindgerümpel vom Dachboden. Da jauchzte das mittlerweile siebenjährige Kind: Was gab es da nicht alles wiederzuentdecken! So wichtige Dinge! So gehaltvolle Bücher! Wie hatte es all das nur vergessen können?! Und wie wird es das nun gegen den kleinen Bruder verteidigen können?!

Greift der Ganzlütte ein Teddy-Kuschel-Knautsch-Buch, will die große Schwester es auch „lesen“. Konzentriert er sich auf sein Grobmotoriker-Lego, ist – zack! – die große Schwester da und interessiert sich brennend für Bausteine. Nimmt er den Knautschball in die Hand, will sie damit Sport treiben. Gehe ich am Nachmittag mit beiden Kindern spazieren, springt der Kleine bald aus der Karre, um auf seinen kurzen Beinen die Welt zu erobern, springt die Große in die bedenklich in den Federn ächzende Karre, um sich kutschieren zu lassen...

Das ist die Regression! Und auch wenn es so scheint, als ob hier um Spielzeug konkurriert wird, so sind es natürlich ideelle Güter, um die Kinder immer konkurrieren: die Liebe der Eltern und die Zeit der Eltern. Aber unsere Kinder müssen einander nichts neiden: Jedes bekommt von uns genau exakt das gleiche Quantum an Liebe und Zeit.

Wie wir die Liebe zu den Kindern messen, verrate ich Ihnen ein anderes Mal. Die Methode der Zeitmessung hingegen ist bekannt und an sich einfach. Von der Zeit und ihren Uhren war hier schon die Rede: In Folge 47 waren wir mit Marcel Proust unterwegs auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Wie sie sich dehnt, davon war in Folge 52 unter dem Titel Ent-schleu-ni-gung zu lesen. Und in ein Leben mit Uhren ohne Zeiger entführte ich Sie in Folge 163. Mittlerweile kann das Kind die Uhr ganz eigenständig lesen und entwickelt sich zum Spießer. Ich sage „Ab ist Bett, es ist schon kurz vor acht!“ Ruft das Kind: „Papa!! Es ist genau exakt sieben Minuten vor acht!!“

Am nächsten Tag handelt es sich dann nicht um Minuten, sondern um Lichtjahre: Die Lieblingspastorin ruft an, sie ist unterwegs und will uns ihre Ankunftszeit mitzuteilen. „Wann kommt Mama nach Hause??“ „Sie ist schon unterwegs, in zehn Minuten ist sie da!“ „ZEHN Minuten?? Das dauert ja noch ewig!! Das sind ja noch drei Tausend Millionen Jahre!!“ Und verzieht sich schmollend.

Am Rande: So, wie wir Eltern drei Tausend Millionen Jahre für unsere lieben Kleinen da sind und unsere Zeit mit ihnen teilen, so können im Gegenzug auch die Kinder ihre Zeit mit den Eltern teilen: Hier noch eine Minute getrödelt, dort noch „mal eben“ etwas geholt, hier noch mal in aller Ruhe aus dem Fenster geträumt...

Da kracht die Küchentür auf, der Ganzlütte kommt herein und fordert meine Aufmerksamkeit, meine Zeit! Er baut sich vor mir auf, reckt seine kleinen Arme und ruft: „Armi!!“ Ich setze zu einem Lächeln an, da fliegt erneut die Tür auf, meine regressive Große naht in vollem Galopp, schreit „Armi!!“ und wirft sich mir entgegen, während ich – es ist zu spät für eine Flucht – verzweifelt versuche, den vollen Wasserkrug abzusetzen und mich zugleich an der Anrichte festzuhalten.

Ein siebenjähriges Kind in vollem Galopp ist in jeder Hinsicht umwerfend!

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